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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Treppe hinauf, stellten uns an die Fenster der Sonnenterrasse und sahen hinaus auf das Meer, dessen Wellen gegen den Strand schlugen. Die Bereiche des Hauses waren in umgekehrter Ordnung angelegt. Küche, Wohnzimmer und das große Schlafzimmer befanden sich im zweiten, zwei kleinere Schlafzimmer und ein kleiner Raum im ersten Stock. Ich lauschte an der Tür zu Claires Schlafzimmer, hörte aber nichts. Nachdem er eine halbe Stunde gewartet hatte, bereitete sich Luke eine Schüssel Müsli zu, wobei er die Bestandteile über den ganzen Boden verteilte. Um neun Uhr klopfte er an Claires Tür. Keine Antwort. Er versuchte, die Klinke herunterzudrücken, die Tür war aber von innen abgeschlossen. Ich verstand das nicht. Noch nie hatte ich erlebt, dass Claire später als sieben Uhr aufgestanden war. Legte ich mich nämlich am Abend schlafen, war sie noch wach, stand ich am Morgen auf, war sie auch wach. Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie überhaupt jemals schlief.
    Unbehagen machte sich in dem Haus breit. Es legte sich über das karierte Sofa, befingerte die Bücherregale, die vollgestellt waren mit den geschundenen Rücken von Taschenbuchkrimis, berührte jeden Miniaturleuchtturm und jedes Buddelschiff. Ich fragte mich, ob Claire tot war oder ob sie uns verlassen, ihre Tür abgeschlossen und sich wie ein Sträfling aus dem Fenster abgeseilt hatte. Ich versuchte, Luke abzulenken, indem ich Spekulationen über die Besitzer des Hauses anstellte. Internationale Spione, und dies hier war ihr Unterschlupf. Unter dem Boden befanden sich unterirdische Kammern, geheime Bunker, ein Durchgang nach China. Oder sie waren Hexen und Zauberer und dies hier ihr Lebkuchenhaus. In der Erde unter der Veranda würden wir die Knochen kleiner Kinder finden, säuberlich abgenagt, begraben nach einem Kannibalen-Schmaus.
    »Das letzte Mal, das sie ihre Tür abgeschlossen hat, war im Sommer«, sagte Luke. »Drei Tage lang ist sie aus ihrem Zimmer nicht rausgekommen. Ich bin zu meinem Vater ins Büro gegangen und habe gelernt, wie man mit dem Abakus rechnet. Und dann ist er mit mir ins Museum gegangen, um Dinosaurier anzusehen.«
    »Und was hat sie gesagt, als sie wieder rauskam?«
    »Nichts. Sie war müde. Aber mein Vater hat uns Essen gemacht, und dann sagte sie, dass sie sich besser fühlt.«
    Er bemerkte, wie ich die geschlossene Tür anstarrte. »Das ist schon in Ordnung so. Lass uns rausgehen.«
    Den Rest des Vormittags verbrachten wir hinter dem Haus im Dünengras und unter den Kiefern. Wir fanden einen ausgedienten Tennisball zwischen den Hinterlassenschaften der Rehe, die überall verstreut waren. Und als Claire endlich auf die Terrasse hinauskam, war Luke damit beschäftigt, den Ball immer wieder gegen die Rückwand des Hauses zu werfen. Ich beneidete ihn um diese einfache mechanische Bewegung, um die Zufriedenheit, die er durch dieses beiläufige Einwirken auf die Welt um ihn herum erfuhr. Jeder Treffer des Balls erzeugte einen dumpfen Schlag, wie Erde, die auf einen Sarg geschaufelt wurde. Im Haus machte Claire Luke ein Zwiebel-Mayonnaise-Sandwich, ohne irgendeine Erklärung abzugeben. Während des ganzen Nachmittags starrte sie auf eine einzige Manuskriptseite, ihre Stimmung befand sich offenkundig im Einklang mit der Einsamkeit eines Hauses und eines Ortes außerhalb der Saison.
    Meine Schlafprobleme begannen kurz nach unserer Ankunft. Claires Gewohnheiten hatten sich verändert. Gegen neun am Abend schloss sie ihre Schlafzimmertür ab und kam vor neun am nächsten Morgen nicht wieder heraus. Sie brachte Luke unten ins Bett – mich ignorierte sie völlig, tat, als sei ich gar nicht da – und löschte dann das Licht. Einen Krimi als Gutenachtgeschichte, wie sie es in Manhattan getan hatte, las sie ihm nur noch selten vor. Luke war jedoch nicht bereit, sich dem neuen Zeitplan seiner Mutter zu fügen. Weiterhin stand er bei Tagesanbruch auf, so dass wir das Haus ein paar Stunden lang für uns allein hatten, bevor Claire auftauchte. Abends schlief er innerhalb weniger Sekunden ein, nachdem seine Mutter die Tür geschlossen hatte. Ich hingegen lag auf dem zweiten Bett, fühlte mich leer und gleichzeitig angespannt – der Widersinn aller Schlaflosen – und wälzte mich bis in die frühen Morgenstunden von einer Seite auf die andere.
    Unser Zimmer sah aus, als sei es von den Besitzern für Gäste bereitgehalten worden und nicht für ihre Kinder. Nachbildungen von Steuerrädern und Aquarelle mit Meerespanorama schwebten über

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