Der Andere
drückte das Glas an seine Kehle, gegen die Schlagader, die in der Kuhle seines Halses pulsierte. »Wenn du gehst, gehe ich mit.«
Ich beobachtete ihn durch meine Finger hindurch. »Was machst du da? Wirf das weg.«
Er beachtete mich nicht. »Ich bin bereit«, sagte er.
Claire hielt die Glasscherbe in der linken Hand und betrachtete sie eingehend. Sie drehte die Scherbe um, beäugte sie aus jedem Winkel, als bedürfe sie einer gründlichen Untersuchung, als könne man etwas von ihr lernen. Der Blutstrom aus dem tiefsten Schnitt auf ihrem Handgelenk, grob und unbändig, hielt im Rhythmus ihres Pulses unvermindert an. Sie sah Luke an und wand sich hinter der Toilette hervor. Wieder standen sie sich gegenüber und sahen einander an, ihre Körper nur Zentimeter voneinander entfernt. Luke trug keine Jacke über seiner baumwollenen Schlafanzughose, die Schlieren von Claires Blut schimmerten feucht auf seinem bleichen Gesicht und der flachen Brust. Die Hand, mit der er das Glas an den Hals hielt, war das einzige Körperteil, das nicht zitterte. Claire hob ihre eigene Scherbe an den Hals, spiegelbildlich zu ihrem Sohn. So standen sie eine ganze Weile da, bis Luke schließlich seine herunterdrückte und ein blutiges Rinnsal erschien. Claire schrie auf wie ein verwundetes Tier, warf ihre Glasscherbe auf den Boden und umarmte ihren Sohn.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich während der ganzen Zeit den Atem angehalten hatte, wobei mir wieder einfiel, dass ich den Atem stundenlang anhalten konnte, ohne dass es mir etwas ausmachte. Aber ich fühlte mich ohnehin schlecht. Ich wusste nicht, ob Luke tatsächlich bereit war, sich die Kehle durchzuschneiden. Schlimmer noch, ich wusste nicht, was aus mir werden würde, wenn er es täte. Unsere Bindung war vermutlich so fest, dass wir unzertrennlich waren. Der Gedanke an eine solche Abhängigkeit machte mich wütend und ließ in mir ein Gefühl von Kraftlosigkeit und Leere aufsteigen. Wer war Luke, dass er diese Entscheidungen für mich treffen konnte, eine derartige Kontrolle über mich hatte? Wie konnte ich mich in eine solche Lage bringen? Ich ließ mich gegen die Wand sinken und fragte: »Luke, verdammt, was war das?« Er beachtete mich aber nicht. Sie standen mitten im Badezimmer, eng umschlungen. Zögernd löste sich Luke aus den Armen seiner Mutter und öffnete die zerschmetterte Tür des Medizinschranks.
»Zeig mir, was dir jetzt helfen kann.«
Claire zitterte haltlos, und ich hatte den Eindruck, dass sie nur mit äußerster Anstrengung verhindern konnte, gleichzeitig in alle Richtungen zu zerspringen. Immer noch pulsierte kranke Energie in ihren Adern, aber sie kämpfte sie nieder, so gut sie konnte. Sie biss sich fest auf die Unterlippe, bis auch diese blutete. Dann zeigte sie auf ein Pillenfläschchen im untersten Fach.
»Ich verlass mich auf dich, ja?«, sagte Luke. Er war achtzehn Jahre alt. »Ich verlass mich darauf, dass dich das Zeug hier nicht umbringt.« Er ließ eine Tablette in Claires geöffnete Hand rollen, aber sie schüttelte den Kopf und verlangte: »Noch eine.« Er gehorchte.
Claire schloss die Augen und schluckte die Pillen ohne Wasser. »Das ist so nicht richtig. Das ist nicht ihr Platz. Sie sollte weit weg von hier sein.«
»Sie sieht Gespenster«, flüsterte Luke.
»Nein«, erwiderte ich. »Sie sieht sich selbst, und das macht ihr Angst.«
»Ich möchte mich hinlegen«, verkündete Claire.
Sie hatte gefährlich viel Blut verloren und war leichenblass, viel blasser, als sie immer schon war. Luke half ihr ins Bett und rief dann einen Krankenwagen. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, schüttelte Claire den Kopf. Zweimal versuchte sie, sich aufzurichten, bevor es ihr schließlich gelang. »Die kommen hier nicht hoch. Wir gehen besser hinunter und warten dort auf sie.«
»Leg dich hin«, riet Luke. »Ruh dich einfach aus.«
Claire rappelte sich auf. »Niemand soll mein Apartment so sehen. Egal wer. Wir gehen nach unten.«
Claire ließ sich am Waschbecken im Bad warmes Wasser über Arme und Gesicht laufen, hüllte sich in einen knöchellangen Mantel und zog ein Paar Lederstiefel an. Ruhig fuhren wir mit dem Aufzug hinunter. In ihrem Mantel und mit gewaschenem Gesicht wirkte Claire immer noch krank, aber nicht mehr halbtot. Auch Luke hatte seine Verletzungen unter einer Skijacke und Jeans versteckt. Beide präsentierten Victor, der in den kleinen tragbaren Fernseher neben der Eingangstür glotzte, annähernd ein Bild vollkommener
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