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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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glücklich, mit ihm dort sitzen und auf das warten zu dürfen, was sich als Nächstes ereignen würde. Luke war einfach nur erleichtert, dass er jemanden gefunden hatte, dem er sich nicht erklären musste.
    So wie dieser erste Schultag waren alle Schultage in den folgenden zwölf Jahren. Luke wurde älter, einige Dinge in seinem Leben veränderten sich, andere nicht. Die wirklich wichtigen Dinge veränderten sich nicht. In der Schule machte er seine Sache recht ordentlich und pflegte die Freundschaft zu Omar. Er ging regelmäßig zu Dr. Claymore und nahm seine Medikamente ein. Seinen Vater sah er so gut wie nie. Im Grunde lebte er eigentlich nicht, sondern existierte einfach nur. Am Tag ließ er sich in der Schule, am Abend zu Hause bei Claire treiben, während sich Wochen, Monate und Jahre ansammelten wie neuer Schnee, der leise auf den alten herabrieselt. Ich stemmte mich gegen die Innenwand seines Schädels, aber es war zwecklos. Er konnte mich nicht hören, ich war gefangen. So wartete ich, wie jeder andere Gefangene auch. Ich saß die Zeit ab und setzte mein Vertrauen in die Vorstellung, dass sich etwas ändern musste und dass mein Vertrauen schließlich belohnt würde.

[home]
    Zweiter Teil
    Vierzig Stufen
    1 . Kapitel
    A ls ich die Augen öffnete, umgaben mich Dunkelheit und das Klirren von zerspringendem Glas. Ich fand mich verschlungen in ein Gewühl von Decken auf dem Boden am Fußende von Lukes Bett wieder. Der Lärm stürmte aus allen Richtungen gleichzeitig auf mich ein, ein Scheppern, gefolgt von Glasregen, dann wieder ein Scheppern. Ich stand auf. Ich hatte meine Form wiedererhalten, nach zwölf Jahren, aber keine Zeit, mich zu fragen, warum jetzt und warum hier.
    Luke sagte: »Ich möchte dort nicht hingehen.« Er richtete sich in seinem Bett auf, das Weiße in den Augen leuchtete hell in dem dunklen Raum.
    »Was ist los?«, wollte ich wissen, aber er antwortete nicht. Wir horchten auf das Splittern.
    »Luke!«, rief Claire. »Liebling, wach auf.«
    »Geh weg«, antwortete Luke so leise, dass sie ihn nicht hören konnte.
    Draußen vor den Schlafzimmerfenstern lag der Central Park wie ein riesiges Loch unter orange-schwarzem Himmel. Die digitale Anzeige der Uhr auf dem Nachttisch zeigte 4 : 13 an. Zart, fast gewichtslos erschien Claire plötzlich im Zimmer. »Luke, Liebling. Bitte steh auf. Hilf mir, es gibt einiges zu tun.« Vom Flur schräg in den Raum einfallendes Licht zeichnete Claire als flatterhaften Schatten. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, wohl aber etwas Nasses, Schwarzes, Glitschiges, das an ihren Händen und Unterarmen klebte. Sie ging auf das Bett zu, aber Luke entzog sich ihren ausgestreckten Armen.
    »Mom, hör auf, was machst du da?«
    »Was ist mit dir? Das hier ist wichtig.«
    »Es ist vier Uhr morgens. Was ist los?«
    »Mein eigener Sohn hilft mir nicht, wenn ich ihn darum bitte.« Ihre Stimme klang scharf, gereizt, aufgebracht. »Mein einziger Sohn, wenn ich ihn bitte, seiner Mutter zu helfen.«
    »Steh nicht auf«, riet ich Luke. »Vielleicht geht sie ja wieder.«
    »So einfach ist das nicht«, entgegnete er.
    Claire schüttelte den Kopf. »Ich habe es satt, meine Mutter in jedem Raum dieser Wohnung zu sehen, wie sie mich aus jedem Spiegel ansieht. Jetzt unternehme ich endlich etwas dagegen, und ich will zu Ende bringen, was ich angefangen habe.«
    Sie packte Luke unter den Achseln, diesen Teenie, der um einiges schwerer war als sie, und hob ihn aus dem Bett, als wäre es ein Sack Federn. Er wehrte sich nicht und ließ sich mit den Füßen zuerst auf dem Boden absetzen. Da standen sie dann und sahen einander an in dem gespenstischen Licht, fast wie Zwillinge, zwei fast identische Profile in unterschiedlicher Höhe. Beide atmeten flach und hastig. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Was konnte ich tun? Zwölf Jahre Gefangenschaft hatten meine Kraft korrodiert. Ich war noch damit beschäftigt, den Rost abzuschütteln. Claire streckte ihre Hand aus und berührte Lukes Gesicht. Mit gespreizten Fingern strich sie über Stirn, Wangen, Nase und Mund. »Mein hübscher Sohn«, schwärmte sie. »Mein Baby.«
    Dann ließ sie die Hand fallen, schob ihn zur Tür, zum Licht, und ich sah, dass sie Blut über Lukes Gesicht geschmiert hatte, dass das, was ihre Hände bedeckte und in zarten Linien über ihre Handgelenke und Unterarme rann, Blut war. Blut aus Schnitten in ihren Handflächen und auf ihren Handrücken. Es sickerte aus den Wunden heraus und kam nicht zum Stillstand.
    Luke

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