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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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geschafft. Bist du jetzt zufrieden? Jetzt kannst du es all deinen Freunden erzählen.«
    »Aber wie konntest du einfach zur Schule gehen und so tun, als wäre nichts passiert?«
    Mir war klar, dass das genau die Frage war, die ihr schon den ganzen Nachmittag auf der Zunge brannte, seit James ihr aufgetragen hatte, uns abzuholen. Ich sah hinter ihr ins Schlafzimmer. Glasscherben ergossen sich aus dem Eckbadezimmer heraus auf den Mahagoniboden. Getrocknete Blutschlieren zogen sich über die weißen Bettlaken. Luke drehte sich um, wollte gehen, und alles, was er sagte, war: »Man wird sich darum kümmern, wenn sie zurückkommt. Sieh dich also gründlich um, solange du willst.«
     
    An jenem Abend hießen sie Luke mit chinesischem Essen aus Einwegschachteln willkommen. Fünf Schälchen aus Plastik und Alu, drei weiße Pappschachteln: ein Festschmaus. James öffnete vier Dosen Mineralwasser. Sich selbst schenkte er Wein ein, während Molly, seine zweite Frau, Moo-Shu-Schweinefleisch, Sesamhühnchen und Knoblauchgarnelen auf weißes Porzellan schaufelte, auf dem sich das Essen zu einem dampfenden Klumpen türmte. Cassie kippte eine Schachtel gebratenen Gemüsereis in eine Schüssel, wobei der Reis an der Form festhielt, die ihm der Behälter gegeben hatte, eine schleimige Geometriestunde. »Volumen ist gleich Höhe mal Länge mal Tiefe«, dozierte sie stolz. »A mal B mal C.« James stocherte mit einer Gabel in dem Turm herum, bis er auseinanderfiel. »S steht für Entropie«, erklärte er.
    Wir aßen in der Küche des ehemaligen Nightingale-Penthouse. Seit zwölf Jahren war es James’ Zuhause. Der Holztisch war nicht mehr da, wir saßen auf gewagten Lederstühlen um eine hohe Marmorinsel herum. Die Küche glänzte in Chrom und gebürstetem Stahl. Das Kleinkind hatten sie in einen Hochstuhl geklemmt, obwohl es schon zwei Jahre alt war und kaum mehr hineinpasste. Die Gerüche waren grauenvoll. Ich hatte vergesssen, wie ekelhaft Essen für mich war, mit seinem öligen Glanz und der unreinen Herkunft.
    »Das Schlafsofa im Fernsehzimmer ist sehr bequem«, verkündete Molly. »Hör nicht auf Cassie, du musst dir nicht das Zimmer mit James junior teilen.«
    »Und du hast dich so sehr darauf gefreut, nicht wahr, Jimmy?«, flötete Cassie. Sie zwickte das Kind in den Bauch und zerzauste dem Nachkömmling ihrer Patchwork-Familie die Haare. »Dein richtig eigener großer Bruder, puff, wie weggezaubert.«
    »Ich kann zu Hause bleiben«, maulte Luke. »Das wäre völlig in Ordnung.« »Oh, nein, bitte hör auf.« Molly griff nach James’ Krawatte, um sie ihm über die Schulter zu werfen, nachdem sich ihre Spitze dem Teller gefährlich genähert hatte. Er blickte auf, war kurz überrascht, bevor er sich wieder seinem Essen zuwandte. »Wir können dich nicht allein in dem Apartment lassen, ohne dass sich jemand um dich kümmert. Schließlich gehst du noch zur Schule, um Himmels willen.«
    »Aber du hättest doch mich, Luke«, wandte ich ein. Er hatte mich immer noch in die Zwangsjacke eingeschnürt, und ich fühlte mich unbeholfen und labil. »Ich würde dir Gesellschaft leisten.«
    »Am liebsten«, schwärmte Cassie, »mag ich diese knusprigen kleinen Stückchen. Die sind wie Popcorn.« Sie spießte ein Stück Sesamhühnchen auf ein Essstäbchen und schob es sich in den Mund. »Phantastisch. Habt ihr das Knacken gehört?«
    »Sprich bitte nicht mit vollem Mund, Liebes«, mahnte Molly. Sie war eine blonde Frau, knapp vierzig, kompakt und topfit, ohne dick zu sein, der Typ Frau, dessen unglaubliche Reserven an Energie und guter Laune Menschen wie Luke und Claire fertigmachten. Cassie hatte die Figur und die blauen Augen ihrer Mutter, aber ihr abhandengekommener Vater musste ihr wohl das rötlichbraune Haar und einige Zentimeter mehr an Körpergröße vermacht haben, bevor er sich aus dem Staub gemacht hatte. Molly hatte ihr Make-up noch aufgelegt und trug ihre Arbeitskleidung, einen lindgrünen Rock mit einer Bluse. Sie wirkte so frisch, dass dies hier auch ein Frühstück hätte sein können und nicht das Abendessen, als wäre dieser Tag noch nicht verstrichen. Rosa Elefanten trotteten über James’ hellblaue Krawatte, als sie von seiner Schulter rutschte und den Bratreis streifte. Die Szene war so absurd, so unwirklich, dass ich vor Lachen losbrüllte. Wer waren diese aufgeweckten Leute? Ein Bühnenbild, und sie waren die Schauspieler, die engagiert worden waren, um uns zu verwirren, uns mit knochenweißem Porzellan und

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