Der Andere
getroffen hatten, von Cassie ferngehalten hatte. Ich wusste nicht, ob sie ihm Angst machte – sie war gerade mal sechs Monate älter als er, wirkte jedoch immer viel vernünftiger und erwachsener – oder ob er sie nur nicht leiden konnte. Beides ergab keinen Sinn, denn sie war hübsch mit ihrem dichten kastanienbraunen Haar, das sie mit Essstäbchen zu einem komplizierten Knoten hochgesteckt hatte, und den großen blauen Augen, die frei waren von Claires Wahnsinn und James’ Berechnung. Unter ihrer Uniform stellte ich mir einen Körper vor, der stark und ebenmäßig wie Marmor war.
Fünf Straßenzüge weiter nördlich warteten wir auf den Aufzug. Ich streckte meine Hand aus, um Cassies Wangen zu berühren, aber meine Arme waren zu beiden Seiten grob festgebunden. Bänder aus Sackleinen schnitten in die Haut ein. Luke hatte mich in eine Zwangsjacke gesteckt, so dass ich wie von Sinnen zwischen den beiden hin- und hertorkelte. »Luke, das ist doch verrückt. Lass mich aus diesem Ding raus.« Er sah mich grimmig an, und ich spürte, wie sich meine Lippen verschlossen.
»Warum siehst du mich so an?«, fragte Cassie.
Luke schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich war in Gedanken woanders.«
Im Aufzug spiegelte poliertes Messing die lackierte Walnusstäfelung wider. Es roch nach Lysol und Chanel Nr. 5 . Die Türen öffneten sich. 3 F war die letzte Wohnung auf der linken Seite. Luke schloss die Tür auf, und ich sah das Apartment, als wäre es das erste Mal. Die Gegenstände waren dieselben, aber außerhalb von Lukes Kopf wirkte alles viel klarer und lebendiger als von innen. Die fünf Zimmer zeugten von einer penetranten Ordnung und Nüchternheit. Claire hatte den verkrusteten Prunk des alten Penthouse in der Fifth Avenue entfernt, in dem nun Cassie mit James und dem übrigen Teil seiner neuen Familie lebte, und durch niedrige moderne Möbel und geheimnisvolle Fotografien von Blumen und Gewehren ersetzt. Eine gerahmte Kohlezeichnung des Vogels der Nightingale Press im Flug hing verloren an der Wand gegenüber der Eingangstür, und ein Quartett Nō-Masken hielt im Flur Hof. Mehr Erinnerungsstücke aus dem alten Apartment gab es jedoch kaum.
Luke und ich gingen in sein Schlafzimmer, um seine Tasche zu packen, während Cassie durch die übrigen Räume des Apartments streifte. Ich spürte, wie sich die Versiegelung meines Mundes lockerte. »Warum magst du sie nicht?«, wollte ich wissen. Er überhörte es. »Vielleicht, weil sie cleverer ist als du? Sie ist es, das kann ich dir sagen. Du wirst träge, wenn ich nicht in der Nähe bin. Träge und schlaff.« Er steckte seinen Kopf unter das Bett und zog ein Mathematikbuch hervor, das er gleich in der Tasche verschwinden ließ. Dann öffnete er eine Schublade seines Schreibtisches und betrachtete eine Reihe orangefarbener Pillenfläschchen aus Plastik. Er sah mich an, dann wieder die Flaschen, bevor er sie stehenließ und die Schublade wieder zuschob. Er zog den Reißverschluss der Tasche zu und ging zum Fenster hinüber, vor dem sich der Central Park bukolisch im späten Nachmittagslicht erstreckte. »Aber es ist sowieso egal, wie du über sie denkst«, sagte ich, »früher oder später wird sie rausfinden, was mit dir los ist. Sie wird alles über Claire erfahren. Sie wird sehen, wie schwach du bist, welche Probleme du hast.« Er wollte sich nicht umdrehen und mich ansehen. Also ging ich zu ihm. »Pass auf. Du solltest langsam mal besser zuhören, was ich dir zu sagen habe.« Fußfesseln legten sich um meine Oberschenkel und Waden, aber ich riss schnell die Knie hoch und konnte sie sprengen. »Na los, Luke, gib schon auf.« Ich presste die Arme gegen die Zwangsjacke, rüttelte an beiden Seiten, stolperte bei diesem Gezappel schließlich über die Tasche und fiel auf mein Gesicht. Luke drehte sich um und sah zu mir auf den Boden hinab. »Du hältst dich hier raus.« Er riss die Tasche unter meinem Körper weg, schwang sie sich über die Schulter und verließ den Raum, wobei er Cassies Namen rief. Ich rappelte mich wieder auf und folgte ihm in den Flur, in dem Cassie mit gespielter Lässigkeit vor Claires Schlafzimmer an der Wand lehnte.
»Was wolltest du da drin?«, wollte Luke wissen.
Sie riss ihre blauen Augen auf und schob sich einen Streifen Kaugummi in den Mund. »Was? Wo?«
»Da hat niemand aufgeräumt«, erklärte Luke. »Sie wollte nicht, dass irgendjemand das Apartment sieht und das, was sie mit ihm gemacht hat. Aber du hast es
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