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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Mund, ebenmäßige Wangen, die Brauen angehoben über den leeren Augen –, egal, ob sie zufrieden oder traurig oder maßlos wütend waren. Irritierend war auch, wenn sie sich zuweilen mitten in einem Satz unterbrachen und ihre Gedanken erst Stunden später weiterführten, als sei nichts geschehen. Aber sie waren nicht so unangenehm wie Venetia, die regelrecht Angst vor mir hatte. Sie versteckte sich in Kleider- und Küchenschränken, kroch unter Tische und hinter Sofas, ihr rosa Kleid knitterte und raschelte wie Trockenblumen. Sie fauchte mich an, wenn ich an ihr vorbeiging, und einmal spuckte sie mir sogar in den Nacken. Ihr Porzellangesicht, ebenmäßig und ernst, täuschte über ihre Boshaftigkeit hinweg. Bei jedem Versuch, das Haus zu verlassen, fand ich sämtliche Türen und Fenster von außen verriegelt.
    Schließlich, am siebten Tag, öffnete sich plötzlich ein Fenster, und Lukes monströse Fingerspitzen zerrten mich heraus. Er ließ mich vor seinem massiven Gesicht baumeln, kraterübersäte bleiche Haut, Augenbrauen wie Wälder, eine Nase wie ein Berg. »Mag sein, dass ich dich nicht ganz loswerde«, sagte er, »aber das ist das Beste, was ich im Augenblick tun kann.« Er neigte seinen Kopf zur Seite und hob mich über das linke Ohr. Er presste mich in das Loch und quetschte mich mit der ganzen Handfläche hinein. Mein Körper wurde zusammengedrückt, heiße, feuchte Dunkelheit umgab mich. Ich taumelte durch eine Art Röhre, bis ich plötzlich von irgendetwas aufgehalten wurde. Ich öffnete die Augen und sah Lukes neues Schlafzimmer am anderen Ende eines langen Tunnels: das flache, seidig glänzende Bett, den Kirschholz-Schreibtisch, die kleine Perserbrücke. Aber wo war Luke? Ich öffnete den Mund, wollte sprechen, aber nichts geschah. Ich stellte fest, dass ich gar keinen Mund hatte. Ich hatte überhaupt keine Form, ein irgendwo hinten in Lukes Schädel weggesperrtes Jucken. Ich sah durch seine Augen und hörte durch seine Ohren. Ich war ein Bandwurm, ein Putzerfisch, irgendeine bisher unbekannte Parasitenart. Ich dachte mich in Luke hinein, aber ich dachte ins Nichts.
    Zwölf Jahre lang blieb ich dort weggeschlossen. Zwölf Jahre lang lebte ich Lukes Leben als Voyeur. Von der Terrasse in einer Ecke seines Gehirns aus wurde ich Zeuge der banalen Tragödien seiner Kindheit und Jugend, und ich konnte nichts dagegen tun, selbst wenn ich es gewollt hätte. Wie einer dieser öden Filme, die niemals enden wollen.
    Er ging wieder zur Schule. Den ersten Tag im Hort verbrachte er allein mit einem kleinen Rennauto zum Aufziehen, das er auf dem Teppich zurückzog, um es dann gegen die Wand davonschießen zu lassen. Es krachte gegen den getünchten Stein und landete mit kreisenden Rädern auf dem Dach. Immer wieder zog er das Auto auf, ließ es los, zog es wieder auf, ließ es erneut los. Mit jeder Kollision platzte ein weiteres Stückchen blauer Lack von dem Auto ab. Nach zehn Minuten gesellte sich ein untersetzter Junge zu ihm, dessen Gesicht einer geschlossenen Faust gleich, und fing das Auto mitten im Lauf ab. Er reichte es Luke und sagte: »Irgendwann ist es genug.«
    Aber Luke nahm das Auto nicht. Stattdessen begann er zu maulen, zunächst zaghaft, steigerte sich dann aber in ein jammervolles Klagen hinein. Das Gebrüll machte sich im Inneren seines Kopfes breit, hallte wider, bis ich vollständig davon umgeben war und die Grenze zwischen mir und diesem grauenvollen Lärm unscharf wurde. Der Junge hielt ihm das Auto einfach hin und wartete. Lukes Finger zupften am lockeren Stoff seines Hemdes herum, knautschten und kneteten ihn wie Teig, und auf den Knien rutschte er vor und zurück, als würde er beten. Der Junge stand ungerührt und reglos da, während die Lehrerin klunkerbehangen und mit beschwichtigenden Gesten vorbeirauschte.
    Danach ließen die anderen Kinder Luke meistens in Ruhe, als sei er zu speziell, um ihn zu hänseln. Aber Omar, rundlich und friedvoll, gab ihm das Auto zurück und wurde sein Freund. Im Schneidersitz hockte er auf dem Boden des Klassenraums und schnitt Schneeflocken aus weißem Bastelpapier aus, wobei er jedes Blatt zu einem strammen Paket zusammenfaltete, bevor er die Seiten kunstvoll einschnitt. Er faltete die Papierchen wieder auseinander und überreichte sie Luke mit ernster Miene als zarte Sträußchen. Die herabgefallenen Schnipsel lagen in flüchtigen Häufchen um ihn herum. An jenem Tag versuchte er nicht, Luke auszufragen, beachtete ihn nicht, als er still wurde. Er war

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