Der Andere
Normalität.
Draußen auf dem Bürgersteig sagte Claire: »Sobald der Krankenwagen kommt, möchte ich, dass du ins Haus und nach oben gehst. Ich möchte nicht, dass du mitkommst, und ich weiß auch nicht, was sie machen, wenn sie mitbekommen, dass du hier allein bist. Wenn ich weg bin, ruf deinen Vater an. Er wird sich um dich kümmern.«
»Ich werde dich begleiten«, sagte Luke entschlossen.
Claire zitterte in der Kälte des frühen April. Ein zarter Hauch purpurroter Dämmerung zeichnete sich über dem Park ab. Sie sagte nichts. Victor stand auf der anderen Seite der Eingangstür und tat, als würde er uns nicht beobachten, während Claire sich gegen die Wand des Gebäudes lehnte und die Augen schloss.
»Luke«, sagte ich, »sie hat recht. Wir müssen hierbleiben.«
Schon bald flackerten die hektischen Lampen des herannahenden Krankenwagens durch die verlassene Straße. Claire öffnete ein Auge: »Geh jetzt ins Haus.«
Luke warf seiner Mutter einen schmerzerfüllten Blick zu, und einen Augenblick dachte ich, er würde sie begleiten. Doch als sich der Krankenwagen näherte, stürzte er ins Haus, ohne sich umzusehen. Ich folgte ihm auf den Fersen. An der Schwelle zur Eingangshalle warf ich einen Blick über die Schulter zurück und sah Claire, wie sie sich langsam zur Bordsteinkante bewegte, mit weit ausgebreiteten Armen, als wollte sie sich von einer Klippe stürzen. Oben angekommen, stellte sich Luke in der Dusche unter kochend heißes Wasser und schrubbte sich die Haut, bis sie wund war.
Gemeinsam saßen wir in Lukes Schlafzimmer und warteten auf den Sonnenaufgang. Ich wusste, dass er es gern gehabt hätte, wenn ich wieder verschwunden wäre. Aber ich saß in dem Ledersessel seinem Bett gegenüber und beobachtete ihn, wie er mich beobachtete. Um acht Uhr stand Luke auf, packte seine Schultasche und ging zur Highschool, als wäre es ein Freitag wie jeder andere.
Ich war verwirrt, wieder draußen zu sein, durchgeschüttelt von der rauhen Luft, umhergestoßen von Licht und Lärm. Der Tag verging wie ein nebelhafter Traum, ein Augenblick taumelte in den nächsten. Ich fühlte mich verletzlich, ausgeliefert. Selbst Omars freundliches Gesicht erschien mir wie ein bedrohlicher Planet. Gern hätte ich es mit einer Nadel wie einen Ballon zum Platzen gebracht. Aber in dieser Hilflosigkeit schwang ein gleichmäßiger Takt von Verzückung mit. Ich war draußen, war frei und konnte wieder mit meiner eigentlichen Arbeit beginnen.
Nach Schulschluss griff uns Cassie, die achtzehnjährige Tochter von James’ zweiter Frau, aus der Horde Elftklässler heraus, die rauchend und sprücheklopfend auf dem Bürgersteig herumhing. Sie lächelte Luke an, ein echtes Lächeln voller Überraschung, Fürsorge und Mitleid, und hob ihrer beider Schultaschen hoch, wobei sie die seine zum Sieger erklärte. »James konnte sich aus dem Büro noch nicht freimachen«, sagte sie. »Ich habe deshalb die letzte Sportstunde ausfallen lassen, um herzukommen und dir das zu sagen. Aber diesen Sack Steine hier werde ich nicht für dich schleppen.«
Luke sah sie an. »Was willst du?«
Cassie war überrascht, aber ihr Lächeln wich nicht. »Gar nichts will ich. Wir gehen in dein Apartment. Du kannst alles holen, was du brauchst. Du bleibst dann eine Weile bei uns.«
»Ich will für mich bleiben.«
»Das wurde so beschlossen«, sagte Cassie. »Du kannst das später mit deinem Vater klären, wenn du willst.«
»Wieso weiß er überhaupt davon? Ich habe ihn nicht angerufen.«
»Na ja, irgendjemand wird es wohl getan haben. Also los, lass uns gehen.«
Luke war zu erschöpft, um zu streiten. Auf dem Weg zum Apartment legten wir eine Pause ein, damit Cassie auf einer Bank an der Central Park West eine Zigarette rauchen konnte. Nach zwei Zügen drückte sie sie auf dem Kopfsteinpflaster aus, weil sie auf der Rückbank eines vorbeifahrenden Taxis jemanden gesehen hatte, der aussah wie ihre Mutter. »Spione!«, keuchte sie. »Überall Spione.« Sie zog die Clogs aus und zerrte an ihren blauen Kniestrümpfen, die sie zu einem hellblauen Rock und einer Oxford-Bluse trug, die zur Uniform ihrer Mädchenschule am anderen Ende der Stadt gehörten, wo sie die Abschlussklasse besuchte. Sie spielte mit ihren bloßen Zehen und seufzte. Dann zog sie ein Paar Flip-Flops aus ihrer Tasche. »›Der Mensch ist in dem Moment frei, in dem er frei sein will.‹ Die Frau auch. Seid ihr schon bei Voltaire?«
Mir fiel ein, dass sich Luke die wenigen Male, die sie sich
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