Der Andere
setzte er nach: »Weißt du noch den Grund deines allerersten Besuchs bei mir? Damals, vor zwölf Jahren?«
Lukes Gesicht erstarrte: »Was ist damit?«
»Du warst damals ein sehr ängstlicher kleiner Junge, Luke. Aber wir konnten dir helfen, deine Mutter und ich.«
Ich stand neben Claymores Schulter. Die Hände hielt ich hinter dem Rücken verschränkt, bemüht, nichts von der Angst spüren zu lassen, die mich plötzlich überkam. Ich sah wieder Luke an, aber er wich meinem Blick aus. »Ja, ich glaube schon«, antwortete er.
»Dieser, äh, Freund – du hattest ihn Daniel genannt –, der dir damals Probleme bereitete. Du würdest mir doch erzählen, wenn er zurückkäme?«
Claymore sprach von mir wie von einer Art Krankheit oder Heimsuchung.
»Unsere Beziehung geht ihn überhaupt nichts an«, sagte ich. »Der hat doch keine Ahnung davon, was für dich das Beste ist.«
Luke sah Claymore ruhig an. »Mir ist nicht ganz klar, was Sie meinen.«
»Was ich meine, ist, wenn du irgendwann wieder Dinge siehst oder hörst, die du eigentlich nicht sehen oder hören solltest, dann musst du mir das sagen. Wir können die erforderlichen Korrekturen vornehmen.«
»An meiner Medikation, meinen Sie.«
Claymore breitete seine rosigen Hände über dem Schreibtisch aus. »An deiner Medikation, an deinem Leben. Je nachdem, was notwendig ist. Du hast auch hier einen Freund, Luke.« Er tippte sich an die Brust. »Ich gehe nicht weg.«
Luke presste die Lippen zusammen. Ich konnte sehen, dass er ein Grinsen unterdrückte, und verspürte eine gewisse Erleichterung. Luke war solch durchsichtigen Manipulationen durchaus gewachsen. Claymore war kein wirkliches Problem. Wie immer war Claire diejenige, um die ich mir Gedanken machen musste.
Dienstagabend klopfte James an die Tür des Fernsehraums und verkündete: »Von der Klinik habe ich erfahren, dass sie in vier Tagen telefonieren darf. Sie hat irgendetwas unterschrieben.« Er zuckte mit den Schultern, als sei das Thema damit für ihn erledigt. James hatte »die Klinik« zum ersten Mal am Sonntag während des Essens erwähnt. Als ich ihn drängte, mir das zu erklären, meinte er nur: »Das ist dort, wo sich meine Mutter erholt«, als hätte ich mir das nicht selbst denken können. James stand also mit diesem Ort, wo immer das sein mochte, in Verbindung, und er war ausgesprochen zurückhaltend mit der Weitergabe von Informationen, die er dort bekam, und beschränkte sich auf das Allernotwendigste. In dieser wie auch in allen anderen Angelegenheiten schien er sich vorgenommen zu haben, möglichst leidenschaftslos zu bleiben. Es schien, als würde jede Gefühlsäußerung den Beweis dafür liefern, dass er auf etwas zurückgeworfen wurde, von dem er glaubte, dass er es lange überwunden hatte.
Ich stand am Fenster. Die Abendsonne, von den hinter dem Park emporwachsenden Hochhäusern in Bänder geschnitten, fing sich in der Windschutzscheibe eines vorbeifahrenden Taxis und zersplitterte gleißend in meinen Augen. Ich drehte mich um und konnte Luke und James hinter einer Wand aus tanzenden Punkten und kleineren Blitzen, die in mein Gesichtsfeld tauchten und sich dort niederließen, kaum erkennen.
Ohne von seinen Hausaufgaben aufzublicken, sagte Luke: »Und was ist mit Besuchern?«
»Ich weiß nicht. Sie haben nichts gesagt.«
»Du hast nicht gefragt.«
»Ich habe jetzt nur die eine Sache geklärt.«
Luke nickte, sah aber noch immer nicht auf. Die Punkte vor meinem Gesicht verblassten, und ich sah James im Türrahmen stehen, wie er seine tiefliegenden Augen mit einem seiner knochigen Finger rieb. »Möchtest du nicht wissen, wie es ihr geht? Was sie mir am Telefon gesagt haben?«
Luke klappte seine Mappe schließlich zu und sah auf. »Ich glaube, ich warte lieber, bis sie mir das selbst erzählen kann.«
James sah seinen Sohn grimmig an. »Sei doch nicht so stur. Keiner von uns hat sich diese Situation gewünscht. Ich versuche, dir zu helfen, so gut ich kann.«
Seine Worte klangen abgedroschen, auswendig gelernt. Aber je mehr ich über sie nachdachte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass er es wirklich so meinte: Natürlich hatte er sich diese Situation nicht gewünscht, und natürlich versuchte er zu helfen, denn was wäre die Alternative? Sein Gewissen mochte ihn dazu bewegt haben, auf keinen Fall aber Liebe. Ich beobachtete die beiden, wie sie sich im Dämmerlicht anblinzelten, und ich erwartete, dass sich zwischen ihnen ein Gefühlsausbruch entladen würde. Aber es tat
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