Der Andere
eines chemischen Experiments. Doch wie in den Naturwissenschaften basierte das auf einer gewissen Logik, einer dichtgedrängten Aneinanderreihung von Gleichungen. Ein Teil meiner Aufgabe bestand darin, dieses straffe Tuch – dieses Schieben, Reizen und Kreischen – zurückzuschlagen, um Luke die einfache Ordnung darunter zu zeigen, die Möglichkeit, diese zu verändern, wie man es anstellte, nicht so isoliert und nutzlos zu sein. Das Kunststück bestand darin, ihm so viel zu zeigen, dass er mir vertraute, nicht aber zu viel, so dass er meines Rates nicht mehr bedurfte.
Schrill und unvermittelt läutete der Schulgong die zweite Hälfte des Vormittags ein. Klumpen getrockneter Kaugummis überzogen den grauen Industriebelag, und Gitter sicherten die Fenster im Erdgeschoss. James und Molly überlegten bereits, ob sie James junior in vier Jahren hier anmelden sollten. Man sprach davon, einen Bewerbungstrainer anzuheuern, bevor sie im kommenden Herbst die Vorschultournee antraten. Cassie tätschelte ihrem kleinen Bruder den Kopf, nannte ihn das Sechs-Millionen-Dollar-Baby. »Wir können ihn neu machen«, flüsterte sie mit ehrfurchtsvoller Stimme. »Wir können ihn …
besser
machen, als er war.« Im Gang vor dem Geschichtsraum betrachtete ich meine Handflächen und Unterarme, warf noch einen Blick auf die Notizen, die ich am Vorabend darauf gekritzelt hatte. In Tinte geschriebene Zeilen drängten sich dicht an dicht auf der Haut, ein Dutzend Schlüsselbegriffe, alle mit Spiegelstrichen versehen, und ein alphabetisches Glossar. Ich wollte dieses Spiel spielen, solange es nötig war. Ich war sicher, dass es Lücken in meiner Vorbereitung gab, aber im Augenblick war es das Beste, was ich tun konnte.
Nach Schulschluss begaben wir uns zu Lukes wöchentlicher Sitzung bei Dr. Claymore, dem Luke nichts davon erzählte, was Claire sich angetan hatte und wo sie jetzt war. Das war nicht anders zu erwarten. Schon vor Jahren hatte er sich in seinen Sitzungen bei Claymore eine Art Unterlassungspraxis zu eigen gemacht, zunächst nur im Hinblick auf mich, später auch bei allen Fragen des Arztes, die seine Mutter betrafen. Über mich wusste Claymore einige wenige Ungenauigkeiten, die Claire in den ersten paar Sitzungen vor über zehn Jahren erwähnt hatte. Über Claire selbst wusste er nur das, was sie in ihren monatlichen Einzelsitzungen preiszugeben bereit war, in denen es, seit sie ihren eigenen Seelenklempner hatte, um ihren Sohn gehen sollte. Niemals entfuhr Lukes Mund etwas von Bedeutung.
Kleine Täuschungen waren Luke in Fleisch und Blut übergegangen. Am Morgen hatte er Molly mitgeteilt, dass er nach der Schule im Schachclub angemeldet sei, was natürlich genau mit der Zeit zusammenfiel, zu der er seine Sitzung bei Claymore hatte. Nicht dass er die Zeit bei dem Arzt für wichtig oder gar für hilfreich erachtete. Luke hatte sich vielmehr zum Ziel gesetzt, möglichst wenige Menschen an seinem Leben und seinen Problemen teilhaben zu lassen. Verwicklungen und Widersprüche warfen nur Fragen auf, und es gab nichts, was er mehr hasste. Mit ungerührter Miene sprach er zu Molly, die eine Hand am Türrahmen, mit der anderen fummelte er am Riemen seines Rucksacks herum. Sie hatte gelächelt, sagte irgendetwas von Verpflichtung. Von Omar und seiner Mutter abgesehen, war ich der Einzige, der immer genau wusste, wenn Luke log, und es gab für mich nicht die geringste Möglichkeit, es irgendjemandem zu erzählen.
Claymore wirkte heute konfus. Seine Fragen zu Schule, Sport und Büchern waren ungenau, und er schien kaum hinzuhören, wenn Luke antwortete. Er rieb sich über sein glänzendes Haupt, erst mit der einen, dann mit der anderen Hand, während seine Augen hinter der Gleitsichtbrille den Raum absuchten. Plötzlich sammelte er sich und fragte: »Und wie geht es deinen Freunden?«
Luke zögerte zunächst. Er hatte gerade über Football geredet. »Meine Freunde?«, fragte er vorsichtig. »Omar geht es gut.«
»Ja«, sagte Claymore und faltete seine rosigen, unbehaarten Babyhände. »Und Omar ist einer dieser guten Freunde, wie ihn sich jeder nur wünschen kann. Aber ich glaube nicht, dass er der Einzige ist, den du je hattest.«
Ich drehte mich vom Fenster weg, von dem aus ich durch einen Schlitz in der Jalousie eine Gruppe Highschool-Teenies beobachtet hatte, die in einer Wolke aus hellblauen kniefreien Röckchen vorbeischwebte. Luke sah kurz zu mir herüber, dann wieder weg. »Es geht allen gut.«
Claymore hielt inne. Dann
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