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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Tremonts die Wildcats ein. Luke blieb trotzdem am Ball, kämpfte sich durch harte Blocks, brach immer wieder Tackles und hielt seine Gegner in Schach. Fast war ich stolz, auch wenn es eine dumme Idee war, ihn ganz vorn spielen zu lassen. Irgendwann gegen Ende des Spiels liefen die Tremonts einen Reverse. In vollem Tempo wechselte Luke die Richtung, um den Ballträger zu erwischen. Der größte Spieler der Tremonts warf Luke durch einen unerlaubten Block regelrecht durch die Luft. Fast sah es aus, als würde Luke schweben. Die Füße über dem Kopf, drehte er sich mehrmals in der Luft. Er landete flach auf dem Rücken, bewegte sich nicht mehr, und der Spielzug lief an ihm vorbei. Ich beugte mich über ihn, sah auf sein Gesicht hinunter, das in den überdimensionierten Helm einmontiert war. Er hatte die Augen geschlossen, nur die Augenlider flackerten und bebten, als kämpften darunter zwei winzige Kreaturen, wild entschlossen, sich zu befreien. »Luke?« Er bewegte seine Arme und Beine, als wolle er einen Schnee-Engel machen. »Luke?« Er öffnete die Augen, jeweils nur eines, erst das grüne, dann das braune, die Pupillen glasig und unkoordiniert. Ein Blutklumpen arbeitete sich aus einem Nasenloch hervor. Gegen die Sonne hinter meinem Kopf sah er mir direkt ins Gesicht und begann zu lächeln.

2 . Kapitel
    A m Montag gingen wir wieder zur Schule. Als Belohnung für meine Beratungstätigkeit auf dem Footballfeld erhielt ich eine Art verschlissenen Businessanzug, gegen den ich die Zwangsjacke eintauschen durfte. Offensichtlich entsprach dieser Lukes Vorstellung von einem gepflegten Äußeren. Zu kurze Ärmel und durchgescheuerte Knie, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu beklagen. Auch das Gesicht, mit dem man mich ausgestattet hatte, behagte mir nicht. Es war dem von Luke zu ähnlich, nur die fleischigeren Züge machten den Unterschied. Es bedurfte diverser Korrekturen, um der Vorstellung näherzukommen, die ich von mir selbst hatte. Aber auch das musste warten, bis ich stärker geworden war.
    Omar stand an der Ecke 91 . Straße West, wo er einen Handball immer wieder gegen die Steinmauer des Schulgebäudes warf. Sein tiefhängender Rucksack pendelte dabei von einer Seite auf die andere, und mit seinem gigantischen Quadratschädel nickte er den vorbeilaufenden Kindern zu. Er fing den Ball auf und zeigte mit dem Finger auf Luke: »Was war mit dir los am Freitag? Es sah aus, als wärst du halbtot.«
    »Ich hatte schlecht geschlafen. Du kennst das ja.«
    »Und dann geht keiner ans Telefon? Das ganze Wochenende?«
    »Oh«, entgegnete Luke vage. »Wir haben ein Problem mit der Telefonleitung. Das wird vermutlich noch eine Zeit dauern.«
    Die Flut herbeiströmender Schüler spülte uns durch die geöffneten Türen in das vom Hall der Stimmen erfüllte Foyer.
    »Lüg mich nicht an«, protestierte Omar. »Was hat deine Mutter diesmal angestellt?«
    »Gar nichts hat sie angestellt. Bei uns ist alles in Ordnung.«
    Omar drängte Luke gegen die Schließfächer vor der Aula.
    »Du darfst gern um Hilfe bitten. Du musst nicht alles alleine regeln.«
    Luke warf mir einen Blick zu. »Ich bin nicht allein.« Er konnte Omar nicht ins Gesicht sehen. »Es geht ihr gut.«
    »Um sie mache ich mir ja auch keine Sorgen.«
    Der Vormittag begann mit Latein. Mr. Doyle, der Lehrer, war ein hagerer Mann in den Vierzigern, dessen Gesicht von schlaffer, pockennarbiger Haut umhüllt und mit einer dicken schwarzgerahmten Brille verziert war, die schon seit Jahrzehnten aus der Mode war. Ein Vogelnest aus struppigem braunem Haar krönte sein Haupt, und sein Hemd wie auch die Krawatte waren schon um neun Uhr morgens zerknittert. Diese Nachlässigkeit, diese Liederlichkeit. Erbärmlich. Wie sollten diese jungen Menschen angesichts eines derartigen Vorbildes die Bedeutung von Disziplin und Genauigkeit – den Dingen, auf die es ankam – begreifen? Er teilte benotete Tests aus und fragte: »Habt ihr eine blasse Ahnung davon, was es bedeutet, fünfzehn Arbeiten zu korrigieren, denen nicht das leiseste Gefühl für eine Sprache anzumerken ist, die für Virgil und Ovid gut genug war, für euch aber offensichtlich nicht?« Fünfzehn Elftklässler sahen ihn entgeistert an. Die Schüler reichten die Arbeiten weiter und murmelten dumpf vor sich hin, als sie die umkreiste Zahl sahen, die in Rot am oberen rechten Rand jeder Arbeit prangte. Ich sah Luke über die Schulter. »Siebenundsiebzig Prozent. C plus. Das kannst du besser.« Von meinem

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