Der Andere
Aussichtspunkt in seinem Schädel hatte ich mitbekommen, dass sich Lukes Noten, die sonst immer gut waren, in den letzten Monaten verschlechtert hatten. Eine Folge seiner Zerstreutheit oder seines Desinteresses, auf keinen Fall aber mangelnder Intelligenz. Damals hatte mich das nicht weiter beunruhigt, aber jetzt sah ich eine Gelegenheit. »Das ist nicht einfach«, flüsterte er. »Warte«, sagte ich. Die aufgeschlagene Seite von Lukes
Metamorphosen
zeigte eine Strichzeichnung mit vier Männern in Roben, die unter einem Säulengang wandelten, die Köpfe im intensiven Gespräch zusammengesteckt. Irgendjemand hatte einem von ihnen einen Pfeil durch den Bauch gezeichnet und dem mit tiefschwarzen Blutspritzern Nachdruck verliehen. Der Stirn des Mannes, der die Diskussion anführte, entsprang eine Peniskarikatur.
Doyle schrieb diesen Satz an die Tafel:
Interea niveum mira feliciter arte sculpsit ebur formamque dedit.
»Bitte übersetzen.«
Ein Mädchen mit hektischem Blick in der ersten Reihe platzte heraus: »Indes schnitzte er mit wunderbarem Geschick und Gelingen schneeweißes Elfenbein und verlieh ihm Gestalt.«
»Nicht sehr elegant, aber der Sinn ist getroffen. Danke, Sarah.«
Nicht ohne ein gewisses Verlangen starrte Luke auf Sarahs Hinterkopf, während ich einen Blick über ihre Schulter auf den Zettel warf, dem ich entnahm, dass es sich bei dieser Übersetzung um die zweite Aufgabe des Tests handelte. Lukes eigene Version lautete: »Indes verlieh er auf prächtige Weise einer schneeweißen Elfenbeinfigur mit Talent eine Form.«
»Den meisten von euch wird dieser Satz bekannt vorkommen«, rief Doyle. »Nicht bekannt dürfte die Antwort auf meine nächste Frage sein, denn die hat nur einer richtig beantwortet.« Doyle kreiste das Wort
arte
ein. »Kasus und Begründung. Bitte jemand anderes als Sarah.« Luke hatte keine Ahnung, und Sarah schirmte ihren Test streberhaft vor der Klasse ab. »Niemand? Aber sicher kann mir jemand sagen, welcher Kasus das ist.«
Ich richtete mich aus der Hocke neben Lukes Stuhl auf, um einen besseren Blick auf Sarahs Blatt zu bekommen. Für einen winzigen Moment verrutschte ihr Arm, aber das reichte. »Das ist der Ablativ«, verriet ich Luke. »Art und Weise.«
»Niemand?«
Sarah drückte die Hände gegen ihren Mund, als müsse sie die Antwort daran hindern, wie ein Springteufel aus ihrem Mund zu hüpfen. Luke meldete sich.
»Luke! Deine Stimme vermisse ich schon lange.« Doyle schob sich die Brille auf der Nase hoch. »Kannst du uns hier weiterhelfen?«
Luke lief rot an und tippte mit seinem Fuß hektisch auf den Boden. Ich konnte seine Angst gar nicht verstehen. Es war doch nichts anderes als ein neues Spiel, in sich geschlossen, folgenlos.
Luke sagte: »Ablativ der Art und Weise.«
»Richtig.« Doyle schien überrascht zu sein. »Und warum?«
Luke sah zu mir rüber. Ich runzelte die Stirn. Sarahs Blatt gab keine weiteren Informationen preis. »Es ist die Art, wie er die Statue gestaltete«, sagte ich. »Sag ihm das einfach.« Luke holte übertrieben tief Luft: »Es sagt uns, dass er die Statue mit Geschick, mit großer Begabung geschaffen hat.«
»Das ist absolut richtig.
Mira arte
– mit großem Geschick. Nicht
Kunst,
nicht
Liebe, capice?
«
Diese verdammte tote Sprache, dachte ich. Mit ihrer Dekadenz, ihrer Pingeligkeit. Altes sollte dort bleiben, wo es hingehört, begraben in der Erde.
Nach der Stunde zog mich Luke im Flur an die Seite: »Ich schummel nicht, Daniel.«
Ich wischte seine Hände vom Revers meines Anzugs. »Deine Antwort war doch richtig, oder?«
Schüler schwirrten im fahlen Neonlicht um uns herum. Ich hörte das Brummen der Neonröhren hinter ihren Plastikabdeckungen und spürte den Phosphor auf meiner Haut prickeln. Dieses Licht ließ dem Schatten keinen Raum. Geheimnisse und Lügen schob es beiseite, was durchaus die Absicht alles Zweckmäßigen ist. Luke gab die Zahlenkombination seines Schließfachs ein. Im Schrank, auf dem oberen Regal, standen Fläschchen verschreibungspflichtiger Tabletten in einer Reihe nebeneinander, die meisten davon voll, mit Ablaufdaten, die sechs und neun Monate und manchmal sogar noch länger zurücklagen. Luke schob sie zur Seite, um Platz für seine Schulbücher zu schaffen. Ich sah den Schülern zu, wie sie sich spontan zu Gruppen und Cliquen zusammenschlossen, um dann wieder auseinanderzugehen. Dabei schienen die Regeln dieser Zusammenkünfte Gesetzmäßigkeiten zu unterliegen, die ebenso komplex waren wie die
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