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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Cassie und fanden die Klassikabteilung abseits, im Keller von einer Glaswand umgeben, als gelte es, sie vor der tumben Außenwelt zu schützen. Hier wurde Luke bei den Werken von Komponisten fündig, die Claire sehr verehrte, als Kontrast zu Janis Joplin und Jefferson Airplane, die die Sommermonate so beherrscht hatten, als sie die Fenster des Apartments aufriss und Sonne, feuchte Luft und Rock ’n’ Roll zu einem klebrigen Ball verschmelzen ließ. Luke hatte sich seine Vorliebe für die betörenden minimalistischen Kompositionen des Winters bewahrt, dichte Klänge mit dramatischem, verschraubtem Aufbau, die sich nur selten für kurze Momente wohlverdienter Unbeschwertheit öffneten.
    Ich erinnerte mich, wie Claire mit ihren leuchtenden, grünen Augen Luke eines Abends bei den Schultern nahm, ihn in ihren Liegestuhl setzte und die gigantischen freistehenden Lautsprecher zu beiden Seiten aufstellte. »Hör mal zu«, sagte sie. Sie hielt ihm das Platten-Cover vor die Nase. »Das hier wurde für Leute wie uns komponiert, für Menschen, die verstehen, was gesagt wird.« Der Klang, der sich aus den Lautsprechern ergoss, war unglaublich dicht, imposant, von der Geschlossenheit eines Möbiusbandes. Kein Eingang, kein Ausgang. »Hörst du?«, fragte Claire und drehte den Lautstärkeregler weiter nach rechts. »Hör genau hin, damit du hörst, was ich höre.« Eingesperrt in Lukes Kopf, fühlte ich mich benommen, ohne Sauerstoff wurde mir schwindlig. Luke hatte ihre Musik auch in der vergangenen Woche gespielt – Philip Glass, Terry Riley, Steve Reich, diese strengen, besonderen Typen –, hatte ihre CDs in seiner Büchertasche aus dem Apartment an der Central Park West hinübergeschmuggelt und heimlich über Kopfhörer angehört. Mir war die Stille lieber. Mich machte das alles nervös. Hinter der Raffinesse spürte ich etwas Ernstes. Optimismus vielleicht, oder etwas genauso Naives.
    Luke stöberte in den Regalen. Die Abteilung lag in gedämpftem Licht, ein paar Verkäufer huschten im Raum umher wie Schauspieler. »Sieh dir das an.« Luke hielt eine glänzende Box mit sechs CDs hoch.
»Music in
12
 Parts«
von Philip Glass. Auf dem Preisschild stand fünfundachtzig Dollars. »So viel Geld habe ich gar nicht.«
    »Das ist doch ein Import, oder?«, fragte ich. »Ich habe eine Idee.«
    Die Schnäppchenkisten standen auf Tischen außerhalb des heiligen Bereichs der Klassik. Kartons, vollgestopft mit längst vergessenen Alben. Bei jeder Preissenkung wurden die neuen Preisschilder einfach über die alten geklebt, so dass die billigsten, rosafarbenen 1 , 99 -Dollar-Aufkleber auf einem Stapel ungültiger Preisschilder prangten. Ich zeigte auf eines dieser erbarmungswürdigen Alben. »Nimm das da und komm mit.« Ich ging in eine abgelegene Ecke des Ladens, in dem sich Comedy-Kassetten und Bücher mit Gitarrentabulaturen türmten. »Pass auf«, sagte ich. »Das hier ist ein Import, und deshalb hat die Kassette auch keinen richtigen Strichcode. Also müssen die sich mit dem Preis auf dem Aufkleber zufriedengeben.« Um uns herum war niemand zu sehen. Der Gang, den ich ausgesucht hatte, war so gut wie nicht einsehbar. Das Eckchen war von Wänden umgeben und lag hinter hohen Regalen versteckt. »Zieh einen Aufkleber ab. Die Kassierer werden sich nicht die Mühe machen, das zu überprüfen.«
    Luke runzelte die Stirn. »Das ist Diebstahl. Ich stehle nicht.«
    »Im Grunde bestrafen sie dich doch dafür, dass du anspruchsvolle Musik magst«, erklärte ich. »Warum sollst du für den schlechten Geschmack anderer Leute bestraft werden?«
    Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und nickte. Verstohlen sah er sich um. Nachdem er niemanden entdeckt hatte, drehte er mir den Rücken zu und kratzte in dem verborgenen Winkel zwischen seinem Körper und der Wand an den Aufklebern herum. Ich sah ihm über die Schulter. »Sei vorsichtig. Zerreiß es nicht.« Wir standen da, beide mit dem Gesicht zur Wand gerichtet, nicht ahnend, was hinter uns geschah, als der Typ Luke ins Kreuz stupste.
    »Tust du mir einen Gefallen?«
    Luke erschrak und fuhr herum, die CDs hinter dem Rücken versteckt. Aber es war weder ein Verkäufer noch ein Sicherheitsmann, sondern ein Schüler aus der Highschool, etwa in Lukes Alter. Sein schlaksiger Körper war fast vollständig in einer bombastischen Skijacke verschwunden. Sein Gesicht war lang, blass und knochig.
    »Tu mir einen Gefallen.«
    »Was?«
    »Leihst du mir zwanzig Dollar?«
    »Was?«
    »Bitte leih mir

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