Der Andere
nichts draus. Ich werde dich schon nicht blamieren, indem ich es James oder meiner Mutter erzähle. Ich kann Geheimnisse für mich behalten.«
Unten in Lukes Sporttasche lagen zwei Bücher mit dem Logo der Nightingale Press. Luke hatte sie aus den Regalen seiner Mutter abgegriffen und in die Tasche gepackt. Weder Cassie noch ich hatten das bemerkt. Das eine trug den Titel
A Flower of Evil.
Darin ging es offenbar um einen weiblichen Serienkiller und einen Ermittler, der feststellt, dass ebendiese Frau pikanterweise Gegenstand sowohl seiner romantischen als auch seiner professionellen Interessen war. Nachdem er seine Hausaufgaben gemacht hatte, saß Luke noch bis spät in die Nacht auf seinem Schlafsofa und las das Buch. Ich stand am Fenster, während er las, und betrachtete die sich ständig verändernden Muster aus erleuchteten und dunklen Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite des tiefschwarzen Lochs, das der Park zu zeichnen schien. Ich wollte meine Gedanken nicht an solchen Müll verschwenden. Aber am Sonntagabend, als Luke auf dem Schlafsofa lag und das zweite Buch der Nightingale Press aufschlug, war ich schon eher an der Lektüre interessiert.
Der Nachmittag und der Abend verliefen ausgesprochen unangenehm. Zwischen Mittag- und Abendessen schmollte Luke. Dabei verbreitete er eine lähmende Angespanntheit um sich, wie jemand, der ein Ereignis erwartet, das sich seiner Kontrolle entzieht. Nachdem sich die Klinik bis zum Abendessen und auch danach immer noch nicht gemeldet hatte und auch James’ Anruf mit der barschen Information beschieden wurde, dass die Telefonstunden vorüber seien, schloss Luke die Tür zum Fernsehraum ab und weigerte sich zu reden. Zyklopenähnlich hing der Plasmabildschirm an der weißen Wand. Mit dem Rücken an das Schlafsofa gelehnt, saß ich auf dem Boden und starrte auf den leeren Bildschirm, als Luke das abgegriffene Hardcover aus der Tasche zog. Ich ließ ihn in Ruhe, damit er seinen Ärger verrauchen lassen konnte. Auf dem abgegriffenen Umschlag spiegelte sich die Silhouette der Skyline von Manhattan in der klassischen Version, mit dem Chrysler-Gebäude, dem Empire State Building und dem Flatiron-Building in der Mitte, so dass sich sinnigerweise die Worte bildeten:
Shadow Life. Ein Roman.
Darunter stand in blutroter Courier-Schrift:
Alexandra Tithe.
Die Seitenkanten waren in demselben Tiefrot gefärbt, und die ganze Aufmachung – Schrift, Grafik und die roten Seiten – sah zum Schreien nach den Siebzigern aus.
»Was hast du da?«, fragte ich wohl eher aus Langeweile als aus einem anderen Grund. Luke sah mich über das Buch hinweg an, sagte aber nichts. »Das ist doch albern. Du willst also nicht mit mir reden?«
»Das ist ein Buch meiner Mutter. Darauf hättest du schließlich auch selbst kommen können.«
»Ist das besser als
A Flower of Evil?
Das war ja wohl ein ziemlicher Mist.«
»Du bist arrogant.«
»Wenn du es so nennen willst. Worum geht es denn in diesem hier?«
»Ich weiß es nicht. Es ist älter, aus der Zeit, als meine Großmutter noch im Verlag war.« Er bog den Rücken durch, was ein sehr menschliches Ächzen erzeugte, das Geräusch von Muskeln und Sehnen, die seit Monaten nicht mehr gedehnt worden waren. Er blätterte das Buch flüchtig durch. »Da hat jemand Notizen in dem ganzen Ding gemacht.«
Ich stand auf und sah ihm über die Schulter. Auf fast jede Seite waren Anmerkungen und Kommentare gekritzelt, nicht nur an den Rändern, auch im gedruckten Text, mit unterschiedlichen Stiften und – wie es aussah – in unterschiedlicher Handschrift. Ich deutete auf einen Absatz in blauer Schrift, der am Rand einer Seite senkrecht hinunterlief. »Das ist die Handschrift deiner Mutter.« »Nein, das ist sie nicht«, entgegnete Luke und deutete auf ein paar scheinbar beiläufige Sätze, die unten auf der Seite in Rot hingeworfen worden waren.
»Nein. Die deiner Großmutter? Das würde am ehesten einen Sinn ergeben, oder?«
»Ich weiß es nicht. Keines der anderen Bücher war wie dieses hier.«
Ich setzte mich auf die Bettkante und las die Notizen. »Ich glaube nicht, dass der Begriff Quälerei hier wirklich zutreffend ist«, hatte Claire geschrieben. Dann, ein paar Absätze später: »Vielleicht versteckt sie sich stattdessen im Blut.« Auf derselben Seite hatte vermutlich ihre Mutter notiert: »Kein Preis kann für eine solche Flucht zu hoch sein, kein Opfer zu groß.«
Ich vergrub mich in das Buch. »Das verstehe ich nicht. Der Roman war doch
Weitere Kostenlose Bücher