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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Buch erst letztes Jahr gelesen hat. Großmutter ist schon seit über zehn Jahren tot.«
    Ich rückte auf dem Bett näher an ihn heran und legte meine linke Hand an der Buchkante auf seine rechte. Wir berührten uns einen Augenblick, beinahe Zwillinge, beinahe Brüder. Dann überließ er mir das Buch, schloss die Augen und schlief ein.
    Ich blieb die ganze Nacht wach und las den Roman zu Ende. Ich entschlüsselte die Kritzeleien der Nightingale-Frauen, so gut ich konnte, wobei ich versuchte, eine sehr seltsame Bemerkung Claires über eine ebenfalls schon seltsame Anmerkung Venetias aufzulösen, in deren Zentrum sich das Buch selbst befand, der unauflösliche, paranoide Knoten eines Thrillers. Juliet beobachtet, wie ihre Doppelgängerin einen Mord begeht, einem betrunkenen Spieler die Kehle durchschneidet, den sie zuvor aus einer Bar in eine müllverdreckte Gasse in Chinatown lockt. Als sie nach Hause läuft, sieht sie, dass ihre eigenen Hände blutüberströmt sind, ihr eigener Rock und die Absätze ihrer Schuhe schwarz und klebrig von diesem Zeug überzogen sind. Venetia notierte am Rand: »Sie hat jegliche Kontrolle verloren, die sie einmal darüber hatte«, dem Claire in ihrer engeren, hübscheren Schrift hinzugefügt hatte: »Es ist sie selbst, die sie unter Kontrolle bekommen muss.«
    Das Ganze war ein Wahnsinn. Aber ich konnte nicht aufhören zu lesen. In den wenigen Stunden wurde mir Juliet so vertraut wie niemand sonst außer Luke. Ich glaubte zu wissen, was sie als Nächstes tun würde – oder besser, ich musste mich nur an das erinnern, was Alexandra Tithe sie tun ließ –, noch bevor sie es tat. Ich nahm ihr die Angst ab, wie sie jemanden, der sie ist und es gleichzeitig nicht ist, dabei beobachtet, wie er ganz schreckliche Dinge tut. Auch die widerwärtige, heimliche Freude nahm ich ihr ab, die ihr diese Verbrechen bereiten, während sich die Opfer – Trunkenbolde, Ganoven, Vergewaltiger – häufen. Ich konnte die abgestandene, verrauchte Luft ihrer Wohnung riechen, das auf der einzigen Herdplatte verbrennende Fett, die heiße Sommerluft, die den Dunst von Abfall und Verzweiflung mit sich trägt. Hinter ihrem Sekretärinnenschreibtisch vergisst sie, wer sie ist, und wirft einen kurzen Blick in ihren Taschenspiegel, was sich aber keineswegs als hilfreich erweist. Ich spürte, dass sie mich, während ich über sie las, gewissermaßen in ihre Haut, in ihren Körper einsog, dass ich mich irgendwo hinter ihren Augen und zwischen ihren Knochen einnistete. Ihr klammes Entsetzen, während sich das Netz um sie herum zusammenzieht, begann, auch mich zu packen.
    Schon bald fürchtet Juliet, ihren Verstand zu verlieren. Sie konsultiert einen Psychiater, den sie sich nicht leisten kann, und beginnt, ihm ihre Geschichte zu erzählen, bis sie sich unterbricht, aus Furcht vor dem Blick, der sich in seinem Gesicht abzeichnet, aus Furcht davor, wohin er sie schicken könnte. Sie nimmt sich zurück, murmelt etwas darüber, dass sie nicht schlafen kann, lässt sein Rezept für Seconal in der Hand verschwinden und geht nie wieder hin. Um zwei Uhr nachts versucht sie, ihren Zwilling bei den Lagerfeuern im Tompkins-Square-Park zu stellen, aber ihre sonderbare Schwester zieht sich wortlos in die Schatten zurück. Juliet sucht weiter Hilfe, die sie eines Tages in einem alten Buch auch findet, das sie auf dem Bürgersteig vor ihrer Wohnung eingeklemmt zwischen Müllsäcken, einem alten Toaster und einem übel zugerichteten Plastiksessel entdeckt. Es ist ein Buch mit Märchen aus aller Herren Länder, riesengroß, modrig, das fast auseinanderfällt. Eines dieser Exemplare, die über Jahrzehnte auf einem Dachboden oder in einem muffigen Keller vergessen wurden. Juliet weiß nicht, warum sie das Buch mit nach oben in ihre Wohnung nimmt, aber sie tut es, und sie beginnt zu lesen.
    Zunächst erscheinen ihr die Geschichten trist, vollgestopft mit bleiernen Moralvorstellungen, oder abgedroschen, überfrachtet mit sprechenden Tieren und kühnen Helden. Dann aber liest sie ein Märchen aus einem Land irgendwo im kalten Norden. Monate, nachdem ein Fischer, bekümmert über den Tod seiner Frau im Wochenbett, ins Meer gegangen war, wird ein Dorf von einer Mordserie in Angst und Schrecken versetzt. Brandstiftung, eine durchschnittene Kehle, zwei Vergiftungen – keine Erklärung, kein Motiv, keine Verdächtigen. Es ist ein kleines Dorf. Niemand kann sich vorstellen, dass einer seiner Nachbarn dieser Verbrechen fähig wäre. In seiner

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