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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Ratlosigkeit schickt der Gemeinderat einen Abgesandten zu einem Einsiedler, einem Mann, dem große Weisheit nachgesagt wird. Der erklärt ihm, dass der Geist des toten Fischers zurückgeblieben ist, um die Lebenden zu quälen. Dieser Geist fand den traurigsten Mann im Dorf und weilt nun an dessen Seite in Gestalt eines verstorbenen Verwandten oder Liebhabers oder vielleicht in der Gestalt des traurigen Mannes selbst. Der Eremit sagt, der Geist wird diesen Mann weiterhin begleiten, ihm ins Ohr flüstern und ihn diese grausamen Dinge tun lassen, bis er schließlich in die Haut des geschwächten Mannes schlüpft und es zwischen dem Mann und dem Geist keinen Unterschied mehr geben wird. Nur wenn sich der traurige Mann selbst auch das Leben nimmt, kann er das Dorf und was von seiner Seele übrig ist, von der Pein befreien. Der Mann muss sein Messer friedvoll und ruhig erheben, sagt der Einsiedler, und wenn der erste Tropfen seines Blutes auf die Erde trifft, wird der Geist entweichen, um irgendwo anders eine neue Behausung zu suchen. Der Abgesandte dankt dem Eremiten und kehrt in das Dorf zurück, wo er die Worte des Eremiten vor dem Ältestenrat wiederholt, daraufhin sein Messer aus dem Gürtel zieht und sich die Kehle durchtrennt.
    Juliet legt das Buch nieder. Sie denkt an die mit Brettern vernagelten Fenster im fünften Stock ihres Mietshauses, an den Selbstmord vor sechs Monaten. Die Polizeiabsperrungen, die jammernde Mutter, die Plane, die man nachlässig über den Körper auf dem Bürgersteig geworfen hatte, einen nackten Fuß, der darunter hervorlugte, wie ein falsch gesetztes Komma. Sie denkt an die letzten Morde und an die widerwärtige Freude, die sich in ihre Furcht mischte. Dann steht sie auf und geht zur Feuertreppe hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Sie legt sich einen Plan zurecht, wobei ihr Kopf so klar und ihr Herz so leicht ist wie seit Monaten nicht mehr.
    Ich las auch Claires und Venetias Anmerkungen zu alldem und beobachtete mich dabei, wie ich meine eigenen Reaktionen auf diese Irren vor mich hin murmelte, auf diese Abschweifungen, Überlegungen und Beschimpfungen, die sich wie Efeu über jede Seite des Romans rankten. Neben den letzten Absatz, in dem Juliet endlich ihre Doppelgängerin auf einem verlassenen Pier am Ufer des Hudson River trifft, von dem aus sie ineinander verschlungen in das kalte Wasser stürzen und in den New Yorker Hafen gespült werden, schrieb Venetia: »Leichter geschrieben als getan, vielleicht«, worauf ihre Tochter entgegnete: »Wenn das nur wahr gewesen wäre.«
    Meine Hände zitterten, während Luke an meiner Seite friedlich schnarchte. Was war nur los mit mir? Mir war, als hätte ich Claire in die Seele gesehen, und das war vertraut und verwirrend zugleich. Auch war mir, als sei die Handlung des Romans in mich hineingeschlüpft, um sich wie eine unangenehme Erinnerung hinter jedem meiner Gedanken zu verstecken. Erst in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages, Schlaf hatte ich nicht finden können, begriff ich, dass das, was ich gelesen hatte, auch Venetias Abschiedsbrief war, dass ihre Anmerkungen erklärten, warum und wie sie beschlossen hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
    Luke wachte schließlich auf, und ich hielt ihm das Buch vor sein schlaftrunkenes Gesicht.
    »Wir müssen es loswerden.«
    »Warum?«, gähnte er. »Und überhaupt, es steht uns nicht zu, es loszuwerden.«
    »Es ist gefährlich.«
    »Wovon redest du?«
    »Es ist nicht gut für Claire, es noch einmal zu lesen. Sie ist sehr anfällig. Es wird sie zu sehr aufregen, wenn sie zurückkommt.«
    Ich wusste, wie ich seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen konnte. Er drehte sich zu mir um, sein Gesicht nahm schärfere Züge an, legte letzte Spuren von Schlaf ab.
    »Woher willst du das wissen?«
    »Ich habe es zu Ende gelesen, während du geschlafen hast. Venetia hat hier ein paar grauenhafte Sachen hineingeschrieben, Sachen, die Claire nie wieder lesen sollte.« Er starrte einen Augenblick auf das Buch und nickte dann, ohne es aufzuschlagen. Für seine Mutter tat er alles. Natürlich hatte die Sorge um Claire nichts mit meinen wahren Beweggründen zu tun. Die Lektüre hatte mir Angst gemacht, denn allmählich ergaben Venetias und Claires Ausführungen einen beängstigenden Sinn, ihre paranoidesten Argumente hatten mich überzeugt, die Figuren in dem Roman waren in meinen Kopf eingedrungen und weigerten sich, ihn wieder zu verlassen. Ich spürte, dass das Buch versuchte, mir Dinge über mich selbst zu

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