Der Andere
schon veröffentlicht. Das sieht mir nicht nach redaktionellen Anmerkungen aus.« Luke blätterte weiter. Claire hatte den oberen Rand beschrieben: »Ich glaube kein Wort davon, aber wird das am Ende etwas ändern?« »Ich habe nicht viel Zeit«, war eine Anmerkung ihrer Mutter am unteren Rand. »Ich muss bald handeln.«
»Ich muss von vorn anfangen«, stellte Luke fest.
Ein Foto von der Autorin gab es nicht, und die Biographie beschränkte sich auf eine kurze Bemerkung: »Alexandra Tithe lebt in New York City. Dies ist ihr erster Roman.« Diese gesichtslose Frau hatte eine sonderbare, klaustrophobische Version von Manhattan Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts geschaffen, ein Flickwerk aus baufälligen Wohnhäusern, Sackgassen und schießwütigen Ganoven. Ihre Männer hatte sie in die Randbereiche geschoben, weibische Weicheier oder einfältige Unglückswürmer, alle leichte Beute für seltsame Frauen, die durch die verrauchten Bars und nasskalten Straßen ziehen wie Piranhas durch einen trüben Fluss. Auf den ersten Blick ist Juliet, Tithes Protagonistin, keine dieser Frauen. Gefangen im verhassten Sekretärinnenalltag, abhängig von den lüsternen Aufmerksamkeiten ihres widerwärtigen Chefs, fristet sie ihr Leben in einem kleinen Apartment in der Lower East Side und verbringt die Zeit auf einer seltsamen Flucht. Nie ist sie sich ganz im Klaren darüber, was sie tut oder, später, wer sie ist.
Venetias und Claires Anmerkungen auf diesen ersten Seiten waren minimal, bis Venetia eine scheinbar dahingeworfene Zeile über den Hudson River – »Vom Mondlicht durchzogen, wie ein nasser, moosbedeckter Baumstamm« – zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen über das Ertrinken machte: Wie es sich anfühlen mag, ähnliche Todesursachen (»Ersticken?« in großen geschwungenen Buchstaben), berühmte Ertrunkene (sie führt Virginia Woolf sowie Percy Bysshe Shelley und die Passagiere der
Titanic
an). Außerdem gab es eine Anekdote, als sie, noch ein Kind damals, eine Leiche gefunden hatte, die im Wintersturm an einen Strand von Rhode Island gespült worden war, deren Hautfarbe vollständig gewichen war und der ein Klumpen ineinander verwobenen Seetangs knebelartig im Mund steckte. Diese Grübeleien waren mit einem roten Korrekturstift direkt über den gedruckten Text des Romans geschrieben worden, so dass die folgenden Seiten kaum noch zu lesen waren. Luke blinzelte ins Lampenlicht. »Hier steht etwas über Juliets Apartment«, sagte er. »Sie hat das Gefühl, dass die Schlösser an ihrer Tür nicht ausreichen, glaube ich.« Auf der nächsten Seite hatte Claire, scheinbar als Antwort auf irgendetwas, geschrieben: »Nein, ›unvermeidlich‹ bedeutet nur, dass du aufgegeben hast.«
Irgendwann nach Mitternacht gähnte Luke und meinte, dass er die Augen kaum noch aufhalten könne. Wir hatten den Roman halb gelesen. Seit einigen Kapiteln beobachtet Juliet eine Frau, die genauso aussieht, sich genauso kleidet und genauso geht wie sie selbst. Die Frau schleicht durch die Stadt, schlendert an den Auslagen eines Textilgroßhandels in der Orchard Street entlang, verschwindet in einer Bar am Washington Square, huscht im frühmorgendlichen Stadtverkehr in der Madison Avenue an Juliet vorbei. Eines Abends, als Juliet zu später Stunde auf der Feuertreppe sitzt und eine Zigarette raucht, sieht sie die Frau die Clinton Street entlangflanieren, gerahmt von Juliets herunterbaumelnden Beinen. Die Unbekannte hält den Kopf gesenkt, aber sie ist es – das heißt, es ist und es ist nicht Juliet, genauso wie die Frau Juliet war und nicht war, immer wenn Juliet sie gesehen hat. »Hallo!«, ruft Juliet mit unterdrückter Dringlichkeit, aus Sorge, sie könne ihre Nachbarn wecken. »Hallo!« Die Frau dreht sich um, sieht hoch, ihr Gesicht einen Augenblick lang im Schein einer Straßenlaterne gefangen. Es ist Juliets Gesicht, jedoch mit einem verächtlichen Grinsen, von dem Juliet irrigerweise glaubt, dass sich dieses niemals ihrer eigenen Gesichtszüge bemächtigt hätte. Und plötzlich, noch bevor Juliet ihre Zigarette in einem Blumentopf ausgedrückt und ihre Beine aus den Stufen der Feuertreppe herausgefädelt hat, geht die Frau zur Rivington Street und verschwindet.
»Genug für heute«, sagte Luke. »Ich bin müde, und ich verstehe das nicht.«
»Den Roman oder die Anmerkungen?«
»Beides. Weder noch.«
»Ich glaube, ich möchte weiterlesen.«
»Wie du willst.« Er ließ sich in die Kissen fallen. »Ich weiß, dass meine Mutter dieses
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