Der Andere
liebkoste die Küste auf dem restlichen Weg zur Klinik.
Bevor wir losgefahren waren, war Molly in der Küche umhergesaust, hatte Luke Plastiktüten voll Sandwiches mit Thunfischsalat und Äpfeln in die Hand gedrückt und davon geplappert, dass es ein wundervoller Tag werden würde, dass wir eine wunderbare Fahrt haben würden, dass Lukes Mutter glücklich sein würde, ihn zu sehen. Ich konnte gar nicht verstehen, was sie so nervös machte. Vielleicht fürchtete sie, dass irgendeine Behörde befunden hatte, dass Claire nicht mehr in der Lage wäre, sich um Luke zu kümmern, so dass sie, Molly, einen neuen Stiefsohn bekäme, den sie noch eineinhalb Jahre lang betreuen müsste, bis er aufs College ginge. Vielleicht fürchtete sie auch das Gegenteil, nämlich dass Luke in das Apartment seiner Mutter zurückkehren würde. In meiner Welt war für derlei Selbstlosigkeit kein Platz, aber vielleicht dort, eingeschlossen in Mollys Brust. Wie auch immer, sie nahm Lukes Wangen zwischen ihre Hände und hielt sein Gesicht sekundenlang vor ihrem fest. Auch Cassie umarmte Luke zu fest und zu lang, und ich empfand ein neues Gefühl – Eifersucht, ich glaubte, das war Eifersucht –, als mir wieder einfiel, wie es sich anfühlte, als sie an mich gedrückt auf dem Sofa lag. Ich stand an der Tür und wollte dieses Gefühl wiederhaben.
Die Blicke, die Molly und James tauschten, während wir auf den Aufzug warteten, waren zu vielsagend, als dass Luke sie hätte deuten können. »Sie hat Angst«, erklärte ich ihm in der Eingangshalle. »Es beunruhigt sie, dass James Claire einmal geliebt hat, und sie fürchtet, dass er sich erneut in sie verlieben könnte.« »Und James?« »James will nur so tun, als hätte er sie niemals geliebt.« Nach diesem Prinzip hatte er in den vergangenen zwölf Jahren sein Leben geordnet. Er wollte seine Zeit mit Claire auslöschen, was bedeutete, dass er auch Luke aus seinem Leben löschen wollte. So erklärte ich es Luke, und er nickte. »Natürlich, aber du sagst es, als hätte ich damit etwas zu tun. Warum sollte ich wollen, dass sich die Dinge ändern? Er ist langweilig, eine ganz gewöhnliche Person. Er ist nicht wie wir.« Ich brauchte eine Weile, bis ich begriffen hatte, dass er mit »wir« sich selbst und Claire gemeint hatte. Aber trotz dieser Erkenntnis war ich nicht sicher, ob ich ihm seine Gleichgültigkeit abnehmen sollte.
Der Name der Klinik war »Shady Bay«. Viel Schatten gab es jedoch nicht. Eine weitläufige, baumlose Rasenfläche erstreckte sich jenseits niedriger Ziegelsteinmauern und des schmiedeeisernen Tores. Das Klinikgebäude selbst war ein flacher, zweistöckiger Ziegelbau mit Mansardenfenstern und Kalksteinsimsen. Am entfernten Ende der Rasenfläche hielt eine Ufermauer den trägen Sund zurück. Das Ganze hatte etwas von einem Sanatorium, weniger von einer Klinik, aber das war möglicherweise genau der Punkt. Der Empfangsbereich war in pfirsichfarbenen und hellbraunen Tönen gehalten und duftete nach Eukalyptus und Meersalz. Ich konnte nicht genau feststellen, ob diese Düfte Teil des gestalteten Ambientes waren oder das zufällige Produkt der Brise, die durch die zur Bucht geöffneten Fenster hereinströmte. Die Leute am Empfang und die Krankenschwestern und Pfleger, die geschäftig über den Rasen und in der Lobby hin und her huschten, trugen weder die typische Krankenhauskleidung noch Kittel, sondern beige Uniformen, in denen sie aussahen wie Flugbegleiter oder Diktatoren aus der Dritten Welt. Zarte Klingeltöne sickerten aus den an den Wänden montierten Lautsprechern, und ein kurzer Augenblick verging, bis ich bemerkte, dass es sich dabei um die Aufnahme eines plätschernden Gewässers handelte, obwohl keine hundert Meter entfernt echtes, nasses Wasser eigene Klänge komponierte.
Unsere Namen wurden registriert, und Luke und James begaben sich zu Designersesseln aus Teakholz, in denen sie warteten. Ich lief nervös im Raum auf und ab. James hatte ohne Wegbeschreibung und Karte hergefunden, und die Art, wie er dasaß, in dieser leicht gelangweilten Pose, weckte in mir die Vorstellung, dass er den Ort kannte. Draußen vor dem Fenster auf dem Rasen breitete eine junge Frau im weißen Schlafanzug ein hellblaues Strandtuch vor sich aus und legte sich mit einem Buch in den Händen auf den Bauch. Sie sah aus wie eine Büroangestellte, die sich in der Mittagspause in den Central Park davongestohlen hat, oder wie ein Teenager, der sich im elterlichen Garten
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