Der Andere
Sommer über das Kinn, die Wangenknochen und die strahlend weißen Zähne eines Filmstars verfügte, über den drahtigen Körper eines Surfers, die makellose Stimme eines Politikers und die maßgeschneiderte Garderobe eines Dandys. Auch Luke sah ein, dass das besser zu dem passte, der ich war.
Auch meine Meinung durfte ich in einigen Fällen freier kundtun, so dass ich mich keineswegs bedeckt hielt hinsichtlich seiner neuen »Freundin«, Sarah Wise, diesem ungelenken Mädchen aus der Lateinstunde, das in meinen Augen geistlos, zickig und nur mäßig attraktiv war. Seit acht Jahren waren sie gemeinsam zur Schule gegangen, und Luke hatte in den letzten beiden Jahren ein Auge auf sie geworfen. Ich verstand nicht, warum, denn Sarah war vor allem eine Streberin. Ständig hängte sie sich an die angesagten Cliquen, was sie zumindest teilweise ihrem Elternhaus im East End zu verdanken hatte, in das sie ihre Klassenkameradinnen scharenweise einlud. Lob und Anerkennung durch ihre Lehrer schienen ihr einziger Lebensinhalt zu sein. Sie lernte eifrig, geradezu fieberhaft, aber echte Begeisterung oder gar Interesse für das, was sie lernte, brachte sie nicht auf. Geschichte, Literatur, Chemie – nichts als Hürden, die es wert war zu nehmen für ein Lob, ein perfektes Zeugnis und die Zulassung zu einem einigermaßen renommierten College. Ich hasste die Idee vom Lernen um des Lernens willen. Die Inbrunst, mit der Lehrer diesen toten Sprachen Latein und Altgriechisch huldigten, widerte mich an, aber Katzbuckelei war das Allerletzte. Eine schlechte Note brachte Sarah zur Raserei, wobei Lukes Aufgabe inzwischen darin bestand, sie wieder zu beruhigen. Und ganz im Widerspruch zu der ihr nachgesagten Intelligenz war sie nicht in der Lage, eine wissenschaftliche Diskussion über genau das hinauszuführen, was ihr im Unterricht beigebracht worden war. »Sie ist nicht gut genug für dich«, sagte ich zu Luke, wobei ich eigentlich meinte, dass sie nicht gut genug für mich war.
In dem Sommer, bevor Luke in die zwölfte Klasse der Highschool kam, verkrochen wir uns, Geiseln der unerträglichen Hitze in Manhattan, während der meisten Zeit in dem klimatisierten Apartment an der Central Park West oder hingen in den Räumen der Nightingale Press herum. Omar tauchte mit seinem Skateboard und einem Tütchen Marihuana auf der Suche nach spektakulärerem Nervenkitzel in der 14 . Straße ab, und irgendwann Mitte August, als sich der Himmel gewitterschwer verfinsterte und die Luft unerträglich wurde, verbrachten wir viel Zeit in Sarahs Wohnung und schlugen die Zeit in ihrem unterkühlten Schlafzimmer tot. In jener ersten Woche kamen sie sich nicht näher. Luke lungerte auf ihrem grauen Flanellsofa herum, während Sarah, den Kopf in die Hände gestützt, bäuchlings quer auf ihrem Bett lag. Ich saß gelangweilt am Fenster. Sie interessierte mich nicht im geringsten. Der Fernseher lief die ganze Zeit, wobei seine Aufgabe im Wesentlichen darin zu bestehen schien, den beiden eine Möglichkeit zu geben, aneinander vorbeizusehen. Auf dem Bildschirm machte irgendeine berühmte Person irgendetwas Dummes. Luke sah Sarah an und fragte: »Warum will irgendjemand so sein wie
sie?
« Sarah rollte mit den Augen und meinte: »Stimmt.« Dann sahen beide, seltsam beschämt, wieder zum Bildschirm.
Aber gegen Ende des Monats lagen beide gemeinsam auf dem Bett, Finger und Beine ineinander verschlungen. Das war der Moment, als sie begann, mich ein wenig zu interessieren, denn Sex interessierte mich immer, egal mit wem. Das zweiwöchige Zusammenleben mit Cassie hatte diese Gefühle in mir geweckt. Seitdem hielt Luke mich von seiner Stiefschwester fern, so gut er konnte, aus Furcht vor den Sachen, die ich machen würde. Aber das spielte keine Rolle. Nach diesen beiden Wochen sah ich Mädchen und Frauen mit anderen Augen, und ich probierte aus, wie sich ihre Körper anfühlten, streichelte sie, berührte sie in der U-Bahn oder in der Schlange vor dem Kino. Es war unausgereift, unsinnig, als würde man eine Frucht befingern, ohne sie zu essen. Ich dachte oft an das Pärchen, über das wir im Park gestolpert waren, als Luke noch klein war. Das war es, was ich wollte, diese Grobheit, diese ungeschminkte, offene Bekundung von Lust.
Eines Nachmittags schließlich, wir lagen wieder auf Sarahs Bett und sahen fern, beugte sich Luke unvermittelt über sie, um sie zu küssen. Er hatte sie überrumpelt, stieß mit seiner Zunge zunächst gegen ihre Zähne, bevor sie den Mund
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