Der Andere
erzählen, die ich gar nicht wissen wollte und von denen ich auch nicht wollte, dass Luke sie erfuhr. Wir waren diejenigen, die es nie wieder lesen sollten.
An jenem Abend schlichen wir uns nach dem Abendessen aus dem Apartment, wobei uns die beiden Wachmänner von der Seite beäugten. Wir überquerten die Straße und schwangen uns über ein geschlossenes Seitentor in den Conservatory Garden. Die große Hauptwiese wirkte fleckig, ihr großer Brunnen lag trocken, und in den Blumenbeeten an den Seiten befand sich nur Erde. Es war ein kalter Winter gewesen, und die Blüte setzte spät ein. Wir hatten einen Spaten mitgenommen, und Luke hob flache Löcher in den Beeten aus. Dabei legte er Blumenzwiebeln frei, die eingesetzt worden waren wie Minen. Er riss
Shadow Life
in Stücke, trennte die Buchseiten in Bündeln vom Rücken und riss dann die Seiten in kleinere Schnipsel, die er in die Löcher rieseln ließ. Der Buchrücken wanderte als Letztes in das größte der Löcher, die er anschließend wieder mit Erde auffüllte. Keine halbe Stunde später waren wir wieder im Apartment. Von unserer Abwesenheit hatte niemand Notiz genommen.
Als Claire am folgenden Abend endlich anrief, elf Tage, nachdem sie uns verlassen hatte, lag ich auf dem Sofa im Fernsehzimmer neben Cassie, hatte mich eng an sie herangearbeitet und meinen ganzen Körper an sie gepresst. Luke saß im Sessel neben dem Sofa, bemüht, uns zu ignorieren. Rote Flecken flammten auf seinen Wangen auf, während Cassie lässig ihren Kopf auf eine Hand stützte. Ich arbeitete meinen Körper noch dichter an ihren heran, bis sich unsere Gesichter berührten, meine Nase an ihrem Kinn ruhte und unsere Münder dieselbe Luft atmeten. Sie trug eine Jogginghose mit abgeschnittenen Bündchen und ein gelbes Tank-Top mit Regenbögen und flauschigen Wölkchen neben den Worten »Ich hasse mich und möchte sterben«. Sie war weich und warm, während ich mich weiter an sie presste. Immer tiefer ließ ich mich in das Gefühl ihrer Formen sinken, in ihre Kurven und Rundungen. Mit einem Ohr hörte ich auf den Fernseher – wir sahen uns irgendetwas über irgendeinen Bürgerkrieg an, das Dröhnen der Artillerie ließ den Raum erbeben –, während sich meine Hände um ihre Brüste legten, die ohne BH und schwer gegen das verblichene Tank-Top drückten. Dann wanderte ich hinunter zum Bund ihrer Jogginghose. Meine Hand glitt in den Raum zwischen ihren Schenkeln und weiter hinauf in die Wärme. Ich drückte die Finger gegen den Stoff und die fremdartige Form darunter. Natürlich spürte sie nichts, sah auch nichts. Ich konnte mich ihr jetzt nicht weiter nähern, ohne in ihren Körper einzudringen, ohne ein Teil von ihr zu werden. Ihre Haut war die Grenze, die ich nicht überschreiten konnte.
Noch bevor es zum zweiten Mal klingelte, hatte Luke den Hörer des Telefons auf dem Beistelltisch bereits in der Hand. Eigentlich war es gar nicht sein Platz, aber er war zu aufgeregt, um sich darüber Gedanken zu machen. »Mom«, sagte er. Cassie neigte den Kopf in seine Richtung, und ich passte mich ihrer Bewegung an. »Wie kannst du mich das nur fragen?« Mein Gesichtsfeld war vollständig von Cassies gigantischem blauen Auge eingenommen. Es war durchsetzt mit winzigen schwarzen Teilchen, wie Ascheflocken. Die riesige Pupille glänzte feucht. Sie runzelte die Stirn, und das vollkommene Oval fiel von oben in sich zusammen. Luke sagte: »Natürlich holen wir dich ab.« Cassie blinzelte und veränderte ihre Position. Dabei presste sie ihre Schenkel fest zusammen, und meine Hände vergingen im Feuer.
Also ließen wir die Schule am folgenden Morgen ausfallen. Ich saß auf dem Rücksitz in James’ BMW . Mit 85 Meilen in der Stunde rasten wir auf der linken Spur den Long Island Expressway entlang. Eine Stunde fuhren wir aus der Stadt heraus, bis wir die Hauptstraße verließen und erst auf eine zweispurige Straße, dann in eine kleinere Landstraße abbogen. Austauschbare Einkaufszentren wichen zunächst ebenso austauschbaren grünen Vororten, dann folgten ganze Reihen stattlicher Villen, die, geschützt von prächtig angelegten Rasenflächen, von der Straße zurückgesetzt waren. Plötzlich kamen wir aus einem Eichenwäldchen heraus, und vor uns öffnete sich der Long Island Sound. Glitzernd, friedlich lag er da. Wie Spielzeug in der Badewanne dümpelten Segelboote auf dem Wasser vor sich hin. Ich drückte mein Gesicht gegen die Scheibe, als die Straße eine scharfe Rechtskurve machte, und
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