Der Andere
zwanzig Minuten von hier entfernt«, sagte er. »Meinst du, du schaffst das, ohne uns umzubringen?«
Luke ließ den Motor an und fuhr stotternd vom Parkplatz hinunter auf die Campus-Straßen. »Du musst mir sagen, wo ich hinfahren soll«, bat er.
»Du bleibst auf der Straße, bis sie auf den Highway stößt«, dirigierte ihn Richard. »Ich sag dir Bescheid.« Sein Blick haftete einen Moment an Luke, der Anflug eines süffisanten Lächelns zog über sein Gesicht, das Lächeln von jemandem, der genau das bekam, was er wollte. Mir war mit einem Mal klar, dass Richard sehr genau wusste, dass Luke keinen blassen Schimmer von dem hatte, was er da machte. Er riskierte sein Leben, nur um zu sehen, ob und wie Luke durchdrehen würde. Wir fuhren eine lange, schnurgerade Straße entlang, von hohen Bäumen gesäumt, die in militärischer Anordnung angepflanzt worden waren. Es war stockdunkel, und mich überkam kurzzeitig ein Gefühl vollkommener Schwerelosigkeit, als Luke seinen Fuß auf das Gaspedal drückte und wir durch die Dunkelheit rasten. Richard räusperte sich. »Du könntest vielleicht das Licht einschalten.« Offenkundig hatte sein Nihilismus Grenzen.
Wir fädelten uns auf den Highway ein, der zu dieser späten Stunde glücklicherweise nur wenig befahren war. New Jersey zog an uns vorbei: Tankstellen, Tagungshotels, Bürokomplexe. Die andere Straßenseite war nicht zu erkennen, während Luke den Wagen gerade und langsam auf der mittleren Spur hielt. Nicht weit vom Campus entfernt deutete Richard auf eine Ausfahrt, und Luke steuerte den Wagen behutsam vom Highway herunter. Kurze Zeit später waren wir auf einer ruhigen Straße mit wenigen Häusern und ohne Verkehr. Richard wies Luke an, den Wagen im unbeleuchteten Teil eines riesigen Parkplatzes abzustellen. Am anderen Ende lag ein flaches, sehr exklusives Gebäude.
»Das ist das Labor.«
»Labor wofür?«, fragte Luke.
Richard antwortete nicht. Er öffnete die Tür und ging über den Parkplatz. Luke ließ er zitternd im Fahrersitz zurück. »So schlecht war das doch gar nicht«, sagte ich zu ihm. »Eigentlich sogar ziemlich beeindruckend.«
Er atmete tief aus und ließ sich in den Sitz fallen. »Ja«, sagte er, »aber wir müssen auch wieder zurück.«
Wir stiegen aus und beeilten uns, Richard einzuholen. Er umging den hell erleuchteten Haupteingang, führte uns zu einem Nebeneingang und sah sich um, bevor er ein klimperndes Schlüsselbund hervorzog.
»Sei leise«, sagte er. »Eigentlich dürfte zwar niemand mehr hier sein, aber man weiß ja nie.« Er wählte einen Schlüssel aus und schloss die Tür auf.
»Wo hast du die her?«, flüsterte Luke.
Richard lächelte verschmitzt und tippte sich an die Nase. »Auch fortgeschrittene Studenten haben schlechte Manieren. Und manchmal nicht genug Geld, um sie zu bezahlen.«
Wir betraten einen dunklen Flur, der zu einer weiteren Tür führte, unter der ein Lichtstreifen hindurchschimmerte. Nachdem wir die erste Tür geschlossen hatten, bot dieser Streifen die einzige Orientierung. Richard tastete nach einem zweiten Schlüssel und öffnete die Innentür. Neonlicht schlug mir in die Augen, gleißende, punktlose Helligkeit umfing mich. »Was machen die hier?«, fragte Luke und schwang den Gurt der Pentax von einer Schulter auf die andere. Richard antwortete nicht. »Richard?«
»Was für einen Film hast du in der Kamera?«, fragte er. »Schwarzweiß wäre besser, journalistischer.«
Unbeleuchtete Unterrichtsräume und Büros gingen vom Gang ab. Wir gingen um eine Ecke, an der linken Seite erstreckten sich deckenhohe Fenster. Noch eine Ecke und wieder ein Flur, bevor Richard uns mit einer Handbewegung dazu brachte, stehen zu bleiben. Von irgendwo im Gebäude vernahmen wir aus der Ferne Stimmen. »Es wäre nicht sehr erfreulich, wenn sie uns schnappen würden«, erklärte Richard. Das Geräusch wurde schwächer, er winkte uns weiter. Schließlich kamen wir an eine schwarze Doppeltür, die Richard mit einem dritten Schlüssel öffnete. Wir betraten den Raum, und die Tür fiel hinter uns zu.
Es war kühl, blaue Glühbirnen erzeugten einen faden Schein. Ich vernahm ein Rascheln, schwaches Atmen, das Kratzen von Fingernägeln auf Metall. Nachdem sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte ich große Käfige, die an den Seiten des länglichen Raums aufgereiht waren. Darin rumorten dunkle Gestalten. Ich ging näher heran. »Was ist das?«, wollte Luke wissen. Ein rosafarbenes Gesicht sprang plötzlich nach vorn
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