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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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bedachte Luke mit einem vorsichtigen »Was ist los?« und vergrub sich wieder in seinem Buch. Ich merkte, dass er gern nach dem Brief des Dekans gefragt hätte – zwei Wochen war das inzwischen her –, aber keine Ahnung hatte, wie er es anstellen sollte. Luke war nicht bereit, es ihm leichtzumachen, also sagte er nichts. Stattdessen legte er in Nates Gegenwart eine Art abgehobener Abgeklärtheit an den Tag, die seinen Mitbewohner noch mehr verunsicherte. Luke saß jetzt an seinem Schreibtisch und blätterte durch die Kontaktabzüge aus dem Fotolabor, bis Nate früh zum Abendessen verschwand. Körnige Schwarzweißaufnahmen zeigten lediglich Ausschnitte von Affenkörpern – Schwänze, Augen, Zähne –, die das Blitzlicht angestrahlt hatte. Ich erkannte ein in stillem Protest geöffnetes riesiges Maul und wandte den Blick ab.
    Luke und ich folgten Nate in den Speisesaal und setzten uns dort allein an einen der hinteren Tische. Die untergehende Sonne strich über eine Glaswand. Luke ignorierte die Tagesgerichte und bereitete sich stattdessen eines seiner Grundnahrungsmittel zu, Reis, gemischt mit Worcestersoße und Mayonnaise, eine der wenigen Sachen, die er überhaupt noch aß. Ich bedeutete ihm, dass die Reisbällchen und die Mayonnaise aussähen, als hätte man aus einer verstopften Arterie Fett herausgepresst, aber mit der Bemerkung, das erinnere ihn an zu Hause, schaufelte er es sich trotzdem in den Mund. Ich war mir nicht sicher, ob das ein Scherz sein sollte. Als wir wieder in unserem Zimmer waren, blieb Nate für den Rest des Abends verschwunden. Bis Richard auftauchte, vertrieben wir uns die Zeit mit Schachspielen. Punkt neun klopfte es. Luke stand auf, um ihn hereinzulassen, aber Richard hatte die Tür bereits geöffnet und war eingetreten, zwei Mädchen im Schlepptau.
    »Buenas noches«, grüßte er. Er bemerkte das Schachbrett auf dem Boden, sah sich im Zimmer um und fragte: »Wer gewinnt?« Ohne die Antwort abzuwarten, wandte er sich den Mädchen zu. »Meine Damen, ich möchte euch Luke Nightingale vorstellen, einsames Genie und fotografisches Ausnahmetalent. Die Familie seiner Mutter lebt schon länger in Amerika als Jesus.« Er drehte sich wieder um und fügte augenzwinkernd hinzu: »Spiel schön.«
    Die Mädchen standen schon in der Tür, als Luke seine Fassung wiedergefunden hatte. Er fegte einen Stapel Krimi-Taschenbücher vom Futon und bat sie herein. Ich musterte das Pärchen. Die eine war aus unserem Pop-Art-Kurs. Sie hieß Beth, wenn ich mich richtig erinnerte. Sie nahm auf dem Futon Platz und schlug züchtig ihre nackten Beine übereinander, als wäre das Möbelstück mit italienischem Leder und nicht mit zerfleddertem Flanell bezogen. Sie trug eine ärmellose weiße Bluse und einen Cordrock. Das Tattoo einer Ratte, die ihrem eigenen Schwanz hinterherjagte, zierte einen Oberarm. Das andere Mädchen blieb neben dem Futon stehen und sah überallhin, außer zu uns. Sie war klein, zart und schien sich noch kleiner machen zu wollen, schlicht gekleidet, Jeans, schwarzer Pulli, Turnschuhe, und ihr dunkles Haar hatte sie zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammengebunden.
    »Hannah?«, sprach Richard sie an.
    Das Mädchen blickte auf. Seine kantigen Gesichtszüge zogen sich zusammen, und plötzlich wirkte sie nicht mehr schüchtern oder schamhaft, sondern wild und boshaft. Dann entspannte sie sich, und ihr Gesicht glättete sich wieder. Sie streckte Luke eine zarte Hand entgegen. »Freut mich, dich kennenzulernen!«, hauchte sie. Luke nahm ihre Hand, drückte sie einmal und gab sie wieder frei. Mein Blick blieb etwas länger an ihr haften. Es schien, als könne ich in ihren Brustkorb hineinsehen, wo sich hinter den Rippen ein teeriger Knoten des Verlangens zusammenballte. Begierig schlang sie die Welt in sich hinein, die an dem Knoten kleben blieb und ihn immer größer werden ließ.
    »So, nun haben wir uns alle miteinander bekannt gemacht«, stellte Richard fest, schwang einen Rucksack von der Schulter und zog den Reißverschluss der Außentasche auf. Er trug einen schwarzen Trainingsanzug über einem weißen T-Shirt anstelle seines üblichen Blazers und der Jeans. Aus dem Rucksack förderte er sein Kokainbesteck zutage: Spiegel, Rasierklinge, Glasröhrchen. Das Pulver befand sich in einem kleinen orangefarbenen Fläschchen. Er schloss die Tür ab und machte sich ans Zubereiten der Lines. »Ich darf davon ausgehen, dass du deinen fürchterlichen Zimmernachbarn für den Abend vergrault hast?«

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