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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Richard winkte uns zu sich, und wir rannten um die Ecke nach vorn, wo der Parkplatz auf uns wartete, leer, bis auf den Toyota im hinteren Teil.
    Vor dem Wagen blieb Luke stehen. »Was ist?«, fragte Richard. Selbst während unserer Flucht leistete er sich dieses selbstgefällige Grinsen. »Gibt’s ein Problem?« »Verdammt«, brummte Luke, bevor er die Fahrertür aufriss. Er raste vom Parkplatz auf die unbeleuchtete Landstraße zurück und nahm dabei fast eine Reihe Zwergkiefern mit. Sein Gesicht verzog sich zu einer angespannten Grimasse. Erst auf dem Highway wich die Angst aus ihm, er fuhr langsamer, hielt sich aus Scheu vor anderen Autos nah am Seitenstreifen. Als wir uns dem Campus näherten, weigerte er sich, schneller als fünfzig Kilometer in der Stunde zu fahren, und blieb schon bei der Andeutung von Gelb vor der Ampel stehen.
    »Ich kann nicht mehr«, erklärte er. »Ich fahr keinen Meter weiter.«
    Richard grinste triumphierend. »Los, bring uns nach Hause. Dann bitte ich dich bestimmt nie wieder zu fahren.« Er hielt inne. »Wenn du zugibst, dass du auch nur ein ganz normaler Lügner bist, wie wir alle auch.«
    Luke wandte ihm den Blick zu: »Wie bitte?«
    Die Ampel wechselte auf Grün, und Richard deutete in Richtung Straße. »Fahr schon. Bis hierher hast du es doch geschafft.«
    Für die Rückfahrt brauchten wir eine halbe Stunde. Mir ist immer noch nicht klar, wie wir das überlebt haben. Nachdem Luke den Wagen auf dem Studentenparkplatz wieder abgestellt hatte, verzog sich Richard in sein Wohnheim, pfiff vor sich hin und rasselte mit seinem Schlüsselbund. Als wir zurück in unserem Zimmer waren, lag Nate bereits schnarchend im oberen Bett. Auf Lukes Schreibtisch lag ein Brief. Es war eine Mitteilung des Studiendekans mit der Aufforderung zu einem Gespräch über einen »ungebührlichen und möglicherweise folgenschweren Zwischenfall«. Die Nō-Maske, natürlich.
    Nate war also ein Verräter. Luke zerriss den Brief in zwei Hälften und warf ihn in den Papierkorb.
     
    Der Herbst nahte. Wieder ließ sich Luke vom Studium ablenken, schwänzte Kurse und vernachlässigte seine Aufgaben. Die schlechten Noten häuften sich, und ich begann, mir Sorgen zu machen. Sollte er durchfallen? Zwei Mitteilungen auf seiner Mailbox aus dem Büro des Dekans hatte er bereits ignoriert, so dass ich schon fürchtete, ein Wachmann von der Campus-Sicherheit könnte eines Tages bei uns auftauchen. Konnte die Schule ihn rauswerfen? Das würde ich nicht zulassen. Ich brauchte diese Trennung von Claire. Wir mussten bleiben. Also begann ich, seine Aufgaben zu machen, Arbeiten zu korrigieren. Er wehrte sich nicht. Er überließ mir Papier und Stift oder setzte mich vor seinen Computer, es war ihm gleichgültig. Alles schien ihm gleichgültig zu sein. Sein Hirn war wie vernebelt, gedankenverloren. Nur zwei Dinge konnten seine Aufmerksamkeit wecken: das Fotografieren und die sklavische Vergötterung von Richard.
    An Halloween saßen wir nachmittags im Shakespeare-Seminar. Luke starrte an die Decke, während ich hinter ihm saß und mein Bestes gab, um mir alles zu merken, was gesagt wurde. Die Studenten saßen an einem von Schrammen übersäten Holztisch, die Häupter in Richtung des grauhaarigen Professors geneigt. Die Hautlappen am Hals des alten Mannes flatterten beim Sprechen, und seine Augen versanken hinter dicken Brillengläsern. Irgendein Mädchen zog gerade einen Vergleich zwischen Othello und Clarence Thomas, als die Zeit um war und wir gehen konnten. Draußen erwartete uns Richard. Er stand da, ans Haus gelehnt, und rieb sich die Nase. »Was hast du heute Abend vor?«, fragte er.
    »Keine Ahnung.« Luke zuckte die Achseln. »Ich habe kein Kostüm.«
    »Scheiß auf Kostüme. Ich hab was Besseres.«
    »Ach ja? Was denn?«
    »Wie das Labor, nur gruseliger. Sei um neun in deinem Zimmer und zieh dich nicht zu hübsch an.«
    »Richard, worum geht’s?«
    Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich komme zu spät zu einem Termin. Bis um neun dann.« Er zwinkerte uns zu und rauschte durch einen Torbogen um die Ecke davon.
    Zurück im Zimmer, fanden wir eine neue Nachricht von Claire auf unserem Anrufbeantworter, die letzte von einem Dutzend weiterer, die Luke nicht zu beantworten geruht hatte. Sie ließ wissen, dass die Blätter nun fallen würden, und fragte, ob Luke ihr nicht helfen könne, sie wegzuschaffen. Er löschte die Nachricht. Mit einem Lehrbuch über Ökonomie vor der Nase lümmelte sich Nate im Sitzsack herum. Er

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