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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Persönliche Beziehungen waren ein Versuchsfeld zur Überprüfung von Annahmen über die menschliche Natur. Menschliche Gefühle waren eine ausgesprochen interessante Demonstration chemischer Störungen im Hirn. Er hatte viele Bekannte, aber nur wenige Freunde. Er ging Leuten gerne so lange auf den Geist, bis sie entweder zurückschnappten oder wegliefen. Aufgewachsen in London und Los Angeles, konnte er nach Belieben zwischen amerikanischem und britischem Akzent hin- und herwechseln. Mädchen, mit denen er schlafen, und Profs, die er beeindrucken wollte, bot er nobelstes britisches Englisch, während alle anderen mit plattestem transatlantischem Slang bedient wurden. Als irgendjemand, der es möglicherweise nicht besser wusste, ihn einmal Richie rief, bewarf er den Übeltäter mit einer Limoflasche und kündigte an, dass er dessen Zimmer in Brand stecken würde, falls er ihn noch einmal beleidigte.
    Und er redete. Ständig. Geschichten, Anekdoten und Theorien strömten aus seinem Mund wie ein Schwarm aufgeschreckter Fledermäuse, die in kristallklarer Luft blind ineinanderflogen. Alles, was er von sich gab, schien ein bisschen Wahrheit und ein bisschen Lüge zu enthalten. Seine Eltern waren britische Adlige; nein, sie waren im Filmgeschäft. In Wirklichkeit aber waren sie von niederem Adel und versuchten sich an Filmproduktionen. Und so weiter. Für mich waren seine Worte schon bald nichts als kleine, aufwendige Figürchen, schön gedrechselt, durchaus geschmackvoll, die detailgetreue Repräsentation von nichts. Ich wusste, dass es Luke wiederum schmeichelte, Gegenstand von Richards ganz besonderer Aufmerksamkeit zu sein. Aber nicht einmal mir kam der Verdacht, dass sich hinter dieser Aufmerksamkeit ein wohlüberlegter Plan verbarg.
    An unserem dritten Abend auf dem Campus trafen wir ihn in einem Zimmer im oberen Stock eines ächzenden, mit Geschwätz und Rauch erfüllten Hauses. Studentische Kunstwerke, kitschig und überfrachtet, hingen schief an dunkelrot getünchten Wänden. »Wenn du dich verlaufen hast«, begann er, auf der Kante eines Pool-Billardtisches balancierend, wobei seine Worte klimperten wie Kleingeld, das man einem Bettler zuwirft, »dann ist das ja schon mal ein guter Anfang.«
    »Ich habe mich nicht verlaufen«, entgegnete Luke. »Ich langweile mich nur.«
    Die Wahrheit war, dass wir uns verlaufen hatten. An jenem Abend hatten wir mit einer Gruppe anderer Neulinge unser Wohnheim verlassen und waren schließlich hier gelandet, allein. Es bestand jedoch nicht der geringste Anlass, das zuzugeben.
    »Langeweile ist eine Pest.« Richard glitt vom Billardtisch herunter und räkelte sich wie eine träge Hauskatze. Sein aschblondes Haar stand von seinem Kopf ab und ragte in die Luft. »Aber es ist schwierig, sich zu langweilen, wenn man keine Ahnung hat, wo man ist.« An der Wand hing ein geschmackloses Gemälde, das einen sezierten Frosch darstellte, dessen Haut mit einer Art Essstäbchen aus Metall festgespießt war. Ich war ruhig, in mich gekehrt und sah rot angelaufene Gesichter vorbeieilen, die sich laut über Dinge unterhielten, die ich nicht verstand.
    »Ich weiß, wo ich bin«, sagte Luke. »Ich wünschte nur, ich wäre woanders.«
    »Eben.« Richard reichte ihm die Hand. »Ich heiße Richard, und ich bin der interessanteste Mensch, den du an dieser Schule kennenlernen kannst.«
    Er führte uns in einen dunklen Raum mit abgewetztem schwarzen Teppichboden, Sitzsäcken und einem gigantischen Fernsehgerät, in dem gerade ein Film über Surfen lief, der aber stumm gestellt war. Dumpfe Gestalten hockten im Dunkeln und rauchten Zigaretten. Auf dem Bildschirm verschluckten tosende blaue Wasserwalzen muskelbepackte kleine Männchen, um sie kurz darauf wieder auszuspucken. Richard kramte ein Fläschchen mit Kokain hervor und zog sich von dem goldenen Stäbchen seines Hemdkragens eine Linie rein. Er bot Luke etwas an, der kurz überlegte, dann aber ablehnte.
    »Ich trinke nicht, weil Alkohol ein Betäubungsmittel ist«, erklärte Richard. »Ich will mehr spüren und nicht weniger. Also nehme ich lieber das hier.«
    Luke warf mir einen flüchtigen Blick zu: »Ich wähle die passenden Momente sehr sorgfältig aus. Und heute Abend ist kein solcher Moment.«
    »Heute Abend möchtest du nur du selbst sein, stimmt’s?« Richard schob das Stäbchen in den Kragen seines gestärkten Anzughemdes zurück. Das Fläschchen verschwand irgendwo anders.
    »Ja, so ungefähr.«
    Richard sah Luke lange an, eine Ader pochte

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