Der Andere
ungehalten auf seiner Stirn. »Irgendetwas ist mit dir«, meinte er schließlich. Vernehmlich zog er hoch und schluckte dann. »Ich glaube, wir werden uns gut verstehen, Luke.«
Schon bald verbrachten wir nahezu jeden Abend in Richards schmucklosem Einzelzimmer mit heruntergelassenen Jalousien, sahen zu, wie er sich gigantische Lines von einem goldgerahmten Kosmetikspiegel reinzog. Stundenlang gab er gehobenen Unsinn von sich, und er verfügte durchaus über einen gewissen Charme, dem auch ich mich manchmal nicht verschließen konnte. Er gab einem das Gefühl, das Wichtigste auf der Welt bestünde darin, ihm zuzuhören und sich seine Ansichten zu eigen zu machen. Luke war das perfekte Ziel. Schüchtern, krank vor Heimweh, seine persönliche Konstellation aus Schmerz und Schuld beherbergend. Das hatte Richard sofort erfasst, und hinter seiner Redseligkeit lauerte unbeirrt der eine Zweck: diese Konstellation aufzudecken und zu erkunden.
Eines Morgens, drei Wochen nachdem wir auf dem Campus angekommen waren, wachte ich auf und sah Luke mit gekreuzten Beinen auf dem Boden unseres Zimmers sitzen, sein Gesicht hinter einer der Noh-Masken verborgen. Es war der Ahnen-Geist aus leichtem, hellbraunem Holz mit rot bemaltem Mund und zwei kurzen schwarzen Hörnern. In der Mitte der wilden, weißen Augen befanden sich anstelle der Pupillen kleine Löcher. In dem vom Sonnenlicht zerteilten Zimmer saß Luke halb im Licht, halb im Schatten. Außer der Maske trug er nichts und schien kaum zu atmen. Ich arbeitete mich aus meiner unbequemen Lage unter dem Fenster hervor. »Was machst du da?«, fragte ich.
Er antwortete nicht. Er bewegte sich nicht. Es war neun Uhr vormittags. Nate schnarchte im oberen Bett leise vor sich hin. Ich klopfte mir den Staub aus dem Anzug und richtete mich auf. In zufälliger Annäherung an eine Yoga-Pose ruhten Lukes Hände auf seinen Knien. Die Geist-Maske starrte mich an. Ich sah genauer in die Augenlöcher, konnte aber keine Bewegung ausmachen. Kleine Löckchen schwarzen Haars überzogen Lukes magere Beine. Die Spitze seines Glieds ruhte auf dem schmuddligen Boden, die Unterseiten seiner Füße waren schwarz vor Dreck. Seine Brust war eingefallen, die Brustwarzen breit und flach, inselhaft umgeben von dunklen Haarbüscheln, die die Leichenblässe seiner Haut noch unterstrichen. Die Maske grinste oder zog eine Grimasse, ich hätte nicht sagen können, was sie wirklich tat. Ich ging im Kreis um Luke herum, aber er ließ nicht erkennen, ob er wusste, dass ich da war.
Nates Wecker platzte los wie eine Bombe. Ich zuckte zusammen, aber Luke rührte sich immer noch nicht. Nate hob seinen Ochsenschädel und blinzelte ins Licht. »Luke«, flüsterte er hastig, »steh auf.« Das hatte mir gerade noch gefehlt. Der Geist des Ahnen starrte ins Leere. Nate murmelte etwas vor sich hin, seine Blicke suchten den Raum ab. Er blinzelte mit seinen Kuhaugen, und einen Augenblick lang schien er sich zu fragen, ob er überhaupt wach war. »Soll das ein Witz sein?«, fragte er. Als Luke nicht antwortete, warf Nate seine Decken von sich und taumelte aus dem Bett auf den Boden. Er sah, was ich sah: einen nackten jungen Mann mit Hörnermaske. Er warf ein Handtuch über Lukes Schoß. »Deck dich wenigstens zu, du Idiot.«
Nate zog sich an und packte seine Tasche, nicht ohne Luke von der Seite her im Auge zu behalten. Schweiß rann Luke den Nacken hinunter. Der hinter der Maske gespannte Draht grub sich in die Haut. »Das ist nicht komisch«, meinte Nate. Er hatte recht, das war nicht komisch, aber seine kindische Antwort darauf, auf Zehenspitzen um Luke herumzulaufen wie ein Dieb um einen vor sich hin dösenden Wachhund, war es. »Ich sollte zum Dekan gehen«, warf er ihm über die Schulter zu, und ich fragte mich, ob er es tatsächlich tun würde. Drei Stunden lang rührte Luke sich nicht vom Fleck. Langsam kroch das Sonnenlicht über den Boden und an der Wand hoch. Ich stand am Fenster und sah zu, wie der Vormittag verging. Wortlos und ohne Ankündigung stand Luke auf, nahm die Maske ab und hängte sie zurück an den Nagel in der Wand. Er wollte mir nicht in die Augen sehen. Er duschte und zog sich an, dann begab er sich zum Literaturkurs der Erstsemester.
Etwa eine Woche später saßen wir im Kellerraum des heruntergekommenen Studentenclubs auf den Hockern einer langen, ziemlich ramponierten Bar. Es war Dienstagabend, und es war schon spät. Mit Ausnahme der fünf Typen, die sich am Tisch hinter uns einen Krug mit Bier
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