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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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spürte, wie sich meine Knochen festigten, stocksteif wurden. Ich war stark, dann wieder schwach und gleich darauf wieder stark. Ich stupste Luke an. Er schüttelte den Kopf in meine Richtung, schluckte schwer. Seine Augen flackerten nervös, aber er lächelte.
    Richard fabulierte über Physik, Kontrollgruppen, Parapsychologie. Ein Band mit düsterem New Wave lief in voller Lautstärke. Nachdem wir den Highway erreicht hatten, holte Richard das Fläschchen heraus und klopfte Lines auf das goldene Kragenstäbchen. Luke und Hannah snifften begierig ihre Line, wie Tiere. Richard hielt Beth das Stäbchen unter die Nasenlöcher, während sie immer schneller fuhr. »Nächste Ausfahrt«, sagte er. Während der Fahrt sprachen Luke und Hannah kein Wort. In Hannahs kleinem Körper tobten Verlangen, Wut und Angst, so dass ich dachte, dass Lukes Hand schmelzen würde, wenn er sie berührte. Beth brachte uns auf eine dunkle Landstraße. Ich sah ein Haus, vor dem Toilettenpapier in den Vorgartenbäumen flatterte. Im Fenster eines unbeleuchteten Spirituosenladens warben Pappskelette für Bierspezialitäten. Beth plauderte über Lichtenstein, Brooklyn, wollüstige Profs. Aus den blechernen Lautsprechern heraus sinnierte ein Sänger über Anstand und Verrat. Richard orientierte sich auf einer handgezeichneten Karte. »Hier geht’s lang.« Er wandte sich nach hinten: »Man muss den Campus verlassen, wenn man an diesem College etwas lernen will.«
    Beth stellte den Wagen teils unter Schilfgras verborgen am Straßenrand ab. Wir stiegen aus, und sie zündete sich die nächste Zigarette an. Zunächst war die glimmende Spitze auf ihrem lässigen Weg von der Hüfte zum Mund und wieder zurück das Einzige, was ich erkennen konnte. Dann hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und ich sah den hochstehenden Halbmond und die dünnen Wolken, die über sein Antlitz huschten. Das Schilf wiegte sich im Takt des Windes. Wir gingen die verlassene Straße entlang, und unsere Gestalten nahmen scharfe, bedrohliche Konturen an. Eine reizbare Aura gespannter Erwartung sprang von einem zum anderen, bevor sie sich schließlich über Luke niederließ, der sich die Kapuze seines Sweatshirts wie ein Mönch über den Kopf gezogen hatte. Sein Gesicht grub sich tiefer in das Kapuzeninnere hinein, aber die Hände blieben unbedeckt. Knochenweiße, dürre Finger nestelten nervös an den Rändern der Jeanstaschen.
    Vor uns brach das Schilf auf, und wir standen vor einem leeren Wachhäuschen, von dem aus ein schmaler Weg seinen Anfang nahm, der sich links an einem topfebenen Feld entlangschlängelte, hinter einem flachen Ziegelbau und an einem kleinen See vorbei, und dahinter in einen dunklen Kiefernwald führte. In der Ferne flimmerten die erleuchteten Fenster eines kleinen Hauses durch die Zweige, und ich fragte mich, wer hier wohl lebte.
    »Lauft geduckt!«, mahnte Richard. »Kann sein, dass wir an Halloween heute nicht die Einzigen hier sind.«
    Der Wind frischte auf, und ein Schwarm Enten erhob sich über den See. Das Rauschen ihrer Flügel löste sich über unseren Köpfen auf und entschwand in die Nacht. Richard deutete auf das Gebäude und wies uns an, von Baum zu Baum zu rennen, wie Heckenschützen unter schwerem Beschuss. Wir ließen das freie Feld schnell hinter uns und blieben dicht am Haus stehen. Luke und die beiden Mädchen keuchten, während Richard nichts anzumerken war. Das Anwesen war nur zwei Stockwerke hoch, in der Mitte ein flacher mittlerer Block und zwei weitläufige Seitenflügel. Es war völlig heruntergekommen, die Fenster im Erdgeschoss mit Brettern vernagelt und mit Graffiti beschmiert. Ein paar Bretter waren locker und hingen wie vom Ausfallen bedrohte Zähne schief herum. Efeu und Dreck überzogen das Ziegelgemäuer, von unten schob sich Unkraut durch den Beton. Mir war bisher noch nie aufgefallen, dass ein Abriss unter Umständen mehr Fürsorglichkeit unter Beweis stellt als allmählicher absichtlicher Zerfall. Vernachlässigung ist trauriger und schonungsloser als Zerstörung.
    Richard holte zwei Taschenlampen aus dem Rucksack. Die eine reichte er Luke, die andere behielt er selbst. In der Ferne zwischen den Kiefern tauchte ein Scheinwerferpaar auf, und Richard pfiff durch die Zähne. »Der Wachdienst!«, zischte er. »Los, rein, beeilt euch.« Er schob ein loses Brett zur Seite und ließ uns hindurchschlüpfen. Beth ging als Erste, ihr Rock flog hoch, als sie sich in den leeren Raum schwang. Hannah folgte, dann Luke. Die

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