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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Scheinwerfer zogen eine Kurve und strahlten in unsere Richtung. Ich schlüpfte durch die kleine Öffnung und fiel auf den Boden. Richard kam als Letzter und zog das Brett hinter sich zu. Der Lichtkegel der beiden Taschenlampen tanzte durch den Raum, der von einer dicken Schmutzschicht überzogen und dessen Boden mit Bierdosen und Glasscherben übersät war. Ich vernahm das gedämpfte Geräusch des Pick-up, der vorbeifuhr und sich dann wieder entfernte.
    »Was soll das hier sein?«, fragte Luke.
    Richard schüttelte den Kopf. »Du meinst, über das Naheliegende hinaus? Zu viele Einzelheiten will ich lieber gar nicht wissen. Die Geschichten, die ich mir ausdenke, sind besser, als die Wahrheit es je sein könnte.«
    »Aber was ist denn das Naheliegende?«
    Mit einer Handbewegung deutete Richard auf die Aktenschränke, die an der hinteren Wand aufgereiht standen, und Hannah öffnete wahllos eine Schublade. Darin befanden sich unzählige Bündel verrottenden Papiers, sortiert in Dutzenden von Ordnern. Sie zog einen heraus, über dem sich sogleich eine gewaltige Staubwolke aufblähte. »Christina Liebing«, las sie vor. »Aufgenommen am 5 . August 1942 . Wohnhaft in Trenton. Geburtsdatum: 9 . April 1923 .« Hannah sah auf. »Da war sie erst neunzehn.« Das Gedruckte war in eng zusammengepressten Absätzen auf die Seite gequetscht. Hannah überflog das Formular. »Diagnose: Depression. Patientin zeigte leichte Besserung nach wiederholter EKT .« Hannah legte den Ordner in die Schublade zurück und zog einen zweiten heraus. »Sean Blau«, las sie. »Multiple Persönlichkeitsstörung. Patient wechselt zwischen drei verschiedenen Persönlichkeiten, wobei die authentische, oder ursprüngliche, zum Zeitpunkt der laufenden Behandlung nicht bestimmbar ist.« Hannah blätterte hastig durch die dicke Akte. »Patient darf zu den Mahlzeiten Löffel benutzen, Messer und Gabel sind verboten.« Unleserliche, von Hand geschriebene Berichte hinter ordentlich getippten Deckblättern. Richard nahm Hannah die Blau-Akte aus der Hand und schob sie in seinen Rucksack.
    Im Gang vor dem Raum hatte irgendjemand ein riesiges Pentagramm in roter Farbe an die Wand gemalt. Hier lagen noch mehr Bierdosen auf dem Boden. Es war schwer, sich ein genaues Bild vom ursprünglichen Aussehen der Örtlichkeit, von seiner tatsächlichen Größe, zu machen. Unsere Taschenlampen lieferten nur Teilinformationen, beschienen eine schmutzige Ecke, eine leere Lampenfassung oder den Ausschnitt eines Graffito. Die Verbindung zwischen dem Gebäudeinneren und seinem Äußeren blieb im Dunkeln.
    »Seht euch das an!«, sagte Richard. Die Räume im zweiten Flügel waren kleiner und lagen hinter dicken, rostigen Metalltüren verborgen. Er richtete seine Taschenlampe in eine der fensterlosen Kammern und ließ den Lichtkegel über eine hochgestellte, mit zerschlissenem Leder bespannte Pritsche gleiten, von deren Seiten Bänder und Fesseln herabhingen. Mit jeder neuen Entdeckung warf er Luke von der Seite verstohlene Blicke zu, als erwartete er eine Bemerkung.
    Das Treppenhaus fanden wir in einem großzügigen Atrium mit hoher Decke. Oben waren die Schlafbereiche untergebracht. Die meisten Räume waren leer, nur in einigen wenigen standen noch die Metallbetten, einige sogar noch mit mottenzerfressenen Laken und ordentlich gefalteten Handtüchern darauf, als würden neue Gäste erwartet. Ich fragte mich, was man getan haben musste, um hier zu landen, und ob es Orte wie diesen heute überhaupt noch gab. Richard führte uns in einen Flur, der hier endete. Er streckte die Arme nach oben und ergriff eine Kordel, die von der Decke herabbaumelte. Eine Luke öffnete sich und ließ eine Leiter hinabgleiten. Nacheinander kletterten wir hinauf.
    Das Dach war flach, in der Mitte gab es einen erhöhten Bereich, und hüfthohe Mauern umsäumten den Dachrand. Obwohl die Anstalt nur zwei Stockwerke hoch war, versperrte weit und breit nichts die Sicht. Richard sah Luke erwartungsvoll, mit einer Spur Ungeduld an, als würde er auf jemanden warten, der sich verspätet hatte.
    »Hier.« Er zog zwei Decken aus seiner Tasche. Die eine breitete er aus, die andere klemmte er sich unter den Arm. »Setzt euch.« Wir setzten uns. »Hannah?« Er hob eine Augenbraue an, und sie setzte sich neben uns. Richard und Beth blieben stehen.
    »Wohin geht ihr?«, wollte Luke wissen.
    Richard meinte nur: »Viel Spaß, Kinder!«, und er und Beth spazierten über das Dach, kletterten über die Erhebung und waren

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