Der Andere
Klack, klack, klack ließ er die Rasierklinge auf den Spiegel sausen. Ich stand neben Richards Schulter und starrte gebannt auf den eingekerbten Klingenrand. »Wie wär’s mit ein wenig Musik?«, schlug er vor. »Ist ja totenstill hier drin.« Luke machte sich an seinem Computer zu schaffen, bis frostige, elektronische Rhythmen aus den Lautsprechern drangen. Ich mochte die Musik. Sie bannte die menschliche Stimme und deren rührselige Wärme, ersetzte sie durch Präzision, Wiederholung, ganz unsentimentale Intelligenz. Was für eine wunderbare Kraft.
»Ich hasse Techno«, stellte Beth fest.
Richard warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Werd mal erwachsen!«, entgegnete er. Er löste sich von Lukes Schreibtisch. »Es ist angerichtet.« Vier Lines lagen auf dem Spiegel bereit. »Vier?«, fragte ich. Richard reichte Beth das Glasröhrchen. Sie erhob sich vom Futon und schwebte durch den Raum, beugte sich über den Spiegel, zog ihre Line und hob den Kopf mit einer adretten, gekonnten Bewegung an, als hätte sie den korrekten Umgang mit Drogen im Mädchenpensionat gelernt wie den Knicks und den Walzer. Hannah stand hinter Richard und zupfte an ihrem Pulli herum. Beth reichte ihr das Röhrchen und stolzierte durch den Raum zurück an ihren Platz. Dass die beiden Mädchen nicht wirklich Freundinnen waren, erkannte ich gleich. Nur durch Richard hatten sie miteinander zu tun, aber wie genau und warum, war mir ein Rätsel. Wie ein Messer nahm Hannah das Röhrchen in die Hand und kratzte beim Sniffen mit dem Ende über das Glas. Nachdem ihre Line verschwunden war, warf sie den Kopf zurück und atmete tief ein. Sie leckte über ihre rissige Fingerspitze, strich damit über den Spiegel und rieb sich alles unter den Gaumen. Wie ein ausgehungertes Kind, das sich seiner nächsten Mahlzeit nicht sicher sein konnte. Beth nahm auf dem Futon Platz und zündete sich königinnenhaft eine Zigarette an. Schließlich nahm Richard das Röhrchen vom Spiegel und hielt es Luke mit einem verschmitzten Lächeln hin.
Luke schob die Brauen zusammen. »Du weißt, dass ich so was nicht tue.«
»Nein, aber vielleicht gibt es einen Teil in dir, der das will«, sagte Richard leise genug, dass die Mädchen es nicht hören konnten. Ich betrachtete die beiden verbliebenen Lines.
»Richard …«
»Hör mal zu«, unterbrach ihn Richard, »wir sind heute Abend ein Team. Verstehst du? Mach’s uns nicht kaputt.«
Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Ich wollte was davon haben.
Richard sagte: »Du musst dich nicht immer so kontrollieren.«
Luke sah mich an, dann wieder Richard. »Du verstehst die Alternative nicht.«
Richard grinste wie ein Totenschädel. Er öffnete den Mund, um zu antworten, als Hannah sagte: »Egal, wovor du dich fürchtest, das hier lässt es dich vergessen. Du wirst keine Angst mehr haben.« Sie drehte sich vom Fenster weg und sah Luke in die Augen. Ihr wütendes Gesicht lächelte, immer noch wütend.
»Scheiß drauf«, beschloss Luke. Er nahm das Röhrchen und zog sich nachlässig die Line rein, schob dabei Reste des Pulvers an den Rand des Spiegels. Er warf den Kopf zurück und hustete. »O Mann.« Richard sniffte seine eigene Line in zwei kurzen Zügen, eine für jedes Nasenloch, und lachte. Hannah sah Luke immer noch an, dabei hatte ich den Eindruck, dass sie eigentlich versuchte, mich zu finden, und nur nicht wusste, wo sie suchen sollte. Die Musik fauchte und tickte. Luke fuhr sich mit der Zunge über Zähne und Gaumen. Er hielt seinen Blick auf einen einzigen Punkt gerichtet, zunächst auf Hannah, dann auf Richard, dann wieder auf Hannah. Genau fünfundsiebzig Sekunden lang war es still, dann drückte Beth ihre Zigarette auf dem Boden aus und sagte: »Etwas Langweiligeres gibt’s ja wohl nicht. Los, lasst uns gehen.«
Draußen flanierten ein ermordetes Starlet und ein Priester Arm in Arm vorbei. Wieder gingen wir über das Campusgelände zum Parkplatz, auf dem Beth ihren kastenförmigen alten Volvo abgestellt hatte. Richard betrachtete das Auto und nickte Luke zu. »Komm bloß nicht auf dumme Ideen.« Ich saß zwischen Luke und Hannah auf der zerschlissenen Lederrückbank. Beth – das Fenster an ihrer Seite war geöffnet, mit der einen Hand hielt sie das Lenkrad, mit der anderen eine Zigarette – drehte mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Meilen pro Stunde Runden auf den engen Straßen des Campusgeländes. Richard grinste durch die Windschutzscheibe den unter uns hinwegrauschenden Asphalt an. Ich
Weitere Kostenlose Bücher