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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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über der Toilettenschüssel, bis sich sein Magen entleert hatte und er nur noch würgte. Dann begab er sich zum Waschbecken, ließ kaltes Wasser laufen und spritzte es sich ins Gesicht. Er richtete sich auf und warf einen Blick auf sein Spiegelbild. Er streckte die Hand aus, um das Glas zu berühren. Mit seinen Fingern zog er Schmierspuren über seine Nase und die weit aufgerissenen, ungleichen Augen. Er befühlte die Striemen am Hals, und der Luke im Spiegel tat dasselbe. Schließlich wandte er sich von seinem Spiegelbild ab und sah mich an, angsterfüllt, dachte ich. Dabei rieb er sich die Striemen und betastete die aufgesprungene Lippe, als wäre er zu neuen Erkenntnissen gelangt. Was ich von seinem Gesicht ablesen konnte, gefiel mir nicht. Auch die Stille, die sich zwischen uns aufbaute und nichts als das Brummen der Neonröhren zuließ, behagte mir nicht.
    »Was?«, sagte ich.
    Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, besann sich aber und schüttelte stattdessen wieder nur den Kopf, ging ins Schlafzimmer zurück und schlief seinen Rausch aus.
     
    Am folgenden Tag trafen wir Hannah zusammen mit einer Freundin im Speisesaal. Sie wirkte müde und winzig in ihrem Kapuzen-T-Shirt, aber ich dachte an das, was in dem zarten Körper steckte, an die Leidenschaft, das Verlangen, und ich lächelte, weil ich wusste, was andere nicht wussten. Sie winkte Luke zu, der knallrot anlief und, den Kopf tief auf sein Tablett gesenkt, sah, dass er wegkam. Er konnte es nicht sehen, aber ich bemerkte das winzige Zucken ihres Mundwinkels und wusste, dass sie an mich dachte. Plötzlich erfüllte mich tiefe Verachtung für meine falsche Form, das Bild, das ich stets mit Hingabe gepflegt hatte. Es war belanglos, nicht dauerhafter als Lukes Kindheitsphantasien von Dinosauriern und Hexen. Jetzt hatte ich verstanden, dass Lukes Körper, so zerbrechlich und unvollkommen er auch war, das mir zugedachte, endgültige Zuhause war, und ihn zu besetzen, meine einzige Möglichkeit war, zu überleben.
    An jenem Abend rief Cassie an. Sie war zurück in Providence, malte wieder Bilder von verstörten Nymphen und verstümmelten Teddybären. Seit der ersten Schulwoche hatten wir nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie wollte wissen, wie Luke sich im College-Alltag zurechtfand. Ich trat näher heran, damit ich ihre Stimme hören konnte, und die Gedanken an Hannah verflogen sofort. »Lad sie doch ein«, sagte ich, was Luke zu meiner Überraschung auch tat.
    »Wann?«, fragte sie.
    »Wie wär’s mit diesem Wochenende?«
    »Ich glaube, ich habe nichts Besonderes vor.«
    »Keine Verabredung mit deinem Freund?«
    Sie lachte. »Kein Freund. Die coolsten Typen hier würden mich lieber anziehen als mich küssen.«
    Ich bezweifle, dass Luke wusste, was sie meinte, aber er lachte trotzdem. Also war es beschlossene Sache: Samstagnachmittag würde sie kommen. Die Leichtigkeit, mit der sie zurück in unser Leben sprang, war so verblüffend, dass ich mich fragte, ob all meine Zurückhaltung nicht ein Fehler gewesen war.
    Luke ging zu Richard, um sich beraten zu lassen.
    »Deine Stiefschwester?« Er sah von einer abgegriffenen Ausgabe des
Physicians’ Desk Reference
auf. »Wenn das keine Gelegenheit für eine Party ist, oder?«
    »Das will ich hoffen«, antwortete Luke.
    Richard drückte ihm ein Faltblatt in die Hand. »Wie passend, dass hier auch gleich eine steigt.« Das Anime eines Cyborg, der eine Laserpistole umklammerte, sah uns mit riesigen violetten Augen an. »Amnesia  VI « stand auf dem Faltblatt. Die Zukunft war gestern. »Die Aufmachung ist ziemlich jämmerlich, aber das Wichtigste steht drin.« 10 : 00  Uhr bis 6 : 00  Uhr. Ein Zelt, vier DJs.
    Draußen im Gang bemerkte ich: »Cassie findet das bestimmt bescheuert.«
    »Schon möglich«, sagte Luke. »Aber hast du eine bessere Idee?«
    Fünf Tage später war sie da. Umgeben von einer Rauchwolke, entsandte sie großzügig Luftküsse. Es schien, als sei sie größer als damals im August, als wir sie das letzte Mal am Bootshaus im Central Park gesehen hatten. Aber vielleicht war sie auch einfach nur dünner geworden. Sie hatte ihr Haar blond gefärbt und zu einem asymmetrischen Bob geschnitten. Ihre abgerissenen Cordhosen und die Converse-Chucks hatte sie gegen weite Levi’s und Cowboystiefel aus Schlangenleder getauscht, doch ihre Apfelbäckchen waren unversehrt. Ich sah sie, und sie war einfach perfekt.
    »Nun«, sagte sie und ließ ihren Blick über die sonnenbeschienenen Höfe schweifen,

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