Der Andere
ordentlichem Zimmer umsah, ein Zimmer, dass in seiner Kargheit geradezu temporär erschien, wie bei einem Filmset. Luke zog sich schließlich noch eine Line für den Weg rein und empfahl sich. Als er sich zum Gehen umdrehte, fasste Richard ihn am Arm. »Eins noch.« Mit einem verstohlenen Blick zur Seite meinte Richard: »In der Eile habe ich vergessen, mir Cassies Nummer geben zu lassen. Ich dachte, du könntest mir da vielleicht helfen.«
Luke grinste. »Mal sehn, was ich für dich tun kann«, sagte er. Dann gingen wir in den feuchtkalten Abend hinaus.
»Du willst sie ihm nicht wirklich geben, oder?«
»Kann schon sein. Ich glaube nicht, dass mir das etwas ausmachen würde.«
»Aber das ist doch dasselbe wie mit Herzen. Pure Arroganz. Solche Leute sollten nicht immer genau das bekommen, was sie wollen.«
»Kann schon sein«, sagte er wieder, aber dieses Mal klang es weniger selbstsicher.
Der Nieselregen besprühte die gepflasterten Wege, als wir zum Zentrum des Campus gingen. Lachfetzen und abgehackte Musik drangen hinter den herabgelassenen Jalousien der Zimmer in den Wohnheimen hervor. Wie eine geheime Ladung pulsierte eine Art unterirdischer Energie durch die regennasse Nacht. Luke hielt den Kopf gesenkt, um sich vor dem Wetter zu schützen. Zielstrebig ging er weiter. Bald waren wir an den Eingangstüren der vollständig verglasten Bibliothek angekommen. Er zückte seinen Ausweis, und schon standen wir in dem von Hall erfüllten Vestibül. Einen Augenblick blieben wir stehen, während Luke das Verzeichnis studierte, bevor wir die Stufen in den Keller hinabgingen.
Ich wollte fragen, was wir hier machten, in Anbetracht meiner derzeit geschwächten Position zog ich es jedoch vor, abzuwarten, was sich ereignen würde. Im Untergeschoss bewahrte die Universität ihr riesiges Zeitschriftenarchiv auf, das sich dort in Aktenschränken befand, die mit Kilometern von Mikrofilmen vollgestopft waren. Luke war noch nie hier unten gewesen. Unruhig lief er an den endlosen Schrankreihen entlang, las jedes der gedruckten Etiketten, die auf den Schubladen angebracht waren. Ich konnte ihm nicht helfen, weil ich nicht wusste, wonach er suchte. Der Gang lag ruhig da und war, soweit ich es beurteilen konnte, menschenleer. Luke schien sowieso nicht in der Stimmung zu sein, jemanden um Hilfe zu bitten. Schließlich blieb er stehen, öffnete eine lange, flache Schublade voll mit kleinen Kartons, jeder mit einer Reihe Buchstaben und Zahlen beschriftet. Auf der Schublade stand »New York Times, 1990 – 1994 «, aber noch bevor ich das Etikett auf dem Karton lesen konnte, hatte er sich diesen schon unter den Arm geklemmt.
Luke brachte die Kiste zu einem von einem Dutzend Mikrofilm-Lesegeräten am hinteren Ende des Gangs. Er öffnete den Kasten und starrte finster auf die Filmspule. Mir war klar, dass er nicht mehr wusste, wie es funktionierte. Lukes Vorhaben hatte etwas Heimlichtuerisches, das mir missfiel, und mein Gefühl sagte mir, dass ich nicht gut beraten wäre, ihm zu helfen. Aber wenn die Mail an Claire der erste Schritt gewesen war, das Vertrauen wiederzugewinnen, das ich durch Cassies Besuch verspielt hatte, dann waren kleine Gesten wie diese der zweite. Ich sprach also etwas lauter und erklärte Luke, wie man einen Film in das Gerät einlegt und einrasten lässt, wie man weiterblättert und wie das Bild gedreht, scharf eingestellt und vergrößert wird.
Luke arbeitete sich durch die vollständige Ausgabe des ersten Tages, den er ausgewählt hatte, wobei er die Überschriften nur überflog. Als er am Ende angekommen war, blätterte er wieder zurück, bis er den Lokalteil gefunden hatte. So ungefähr schien er zu wissen, in welchem Teil der Zeitung sich dieser befand, und indem er tageweise weiterblätterte, gelangte er mit im Schein des Monitors fiebrig glänzenden Augen zu der gesuchten Stelle. Aber für die ersten zwei Wochen des Monats November, den er gewählt hatte, wurde er von den Lokalseiten enttäuscht. Ich sah Berichte über Vergewaltigungen, Überfälle und Etatzwänge, über Crack, Lotto und alle Arten von häuslicher Gewalt, aber all dies war nicht das, wonach Luke suchte.
Während die Tage auf dem Bildschirm vorüberliefen, erkannte ich allmählich, was wir hier an einem regnerischen Dienstagabend in der Abgeschiedenheit des Kellers eigentlich taten. Doch diese Vorahnung nützte mir nichts mehr, als sich das bekannte Foto auf den Bildschirm schob. Ich hatte es schon erkannt, bevor Luke das mürrisch
Weitere Kostenlose Bücher