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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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was sie will.«
    Herzen seufzte: »Das ist nicht fair, und es stimmt auch nicht.«
    »Du bist ein Aasfresser.«
    »Über mich kannst du denken, was du willst. Aber deine Mutter hat Besseres verdient.«
    »Etwas Besseres als was?«, fragte Luke. »Etwas Besseres als mich?«
    »Nein, das habe ich so nicht gemeint.« Herzen runzelte die Stirn, so dass sich tiefe Furchen bildeten. Die Haut auf dem rasierten Kopf wirkte weich, plastisch, wie hautfarbene Knetmasse. »Ich kann jetzt nichts machen«, sagte er, zog sich in Claires Schlafzimmer zurück und schloss die Tür hinter sich. Eine Viertelstunde später saß Claire am Küchentisch und trank Tee. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid, hochgeschlossen bis zum Hals. Herzen war gegangen, so dass wir in unserer vertrauten Dreiecksbeziehung wieder vereint waren. Claire und Luke saßen sich am Tisch gegenüber, während ich wie eine Art Schiedsrichter an der Seite stand.
    Claire sagte: »Warum hast du mir nicht gesagt, dass du kommst?«
    »Ich war nicht sicher, ob ich über Nacht bleiben würde«, sagte Luke. »Ich wollte keine große Affäre daraus machen.«
    »Und nun haben wir das Problem.« Claire breitete die Hände zu einer Geste aus, die alles bedeuten konnte.
    Luke zuckte die Schultern. »Wenn du Gregory meinst, darüber werde ich hinwegkommen.«
    »Du bist sauer, das weiß ich.«
    »Nicht auf dich.«
    »Dann auf Gregory.«
    Luke zuckte wieder mit den Schultern. »Darüber müssen wir jetzt nicht reden. Eigentlich auch sonst nicht.«
    Claire schlang ihr dunkles Haar zu einem dicken Knoten zurück, vollzog eine Wandlung vom Sexualobjekt zur Vollblutmutter. »Gregory kann nichts dafür«, sagte sie. »Ich lebe noch. Ich treffe Entscheidungen, gute und schlechte, aber auf jeden Fall sind es meine.« Sie redete, als hätte sie nicht Dutzende aufgeregter Nachrichten auf Lukes Anrufbeantworter im Studentenwohnheim hinterlassen, als hätte sie Cassie nicht aus ihrer Wolke aus Pot und Acryl zu einem Kontrollbesuch bei Luke zitiert, als hätte sie nicht getan, was sie getan hatte, und als wüsste Luke nicht, was er wusste. Dies war die Fiktion von Claire als kompetentem, eigenständigem Wesen, und es war schwer zu sagen, ob sie diesen Taschenspielertrick für sich selbst vollführte oder ob sie es für uns tat. So oder so, Luke ging darüber hinweg, war vielmehr erleichtert darüber, dass sie nicht auf die Idee kam, ihn zu fragen, warum er eigentlich wirklich nach Hause gekommen war.
    Wie zum Beweis, dass er auf niemanden böse war, begleitete Luke seine Mutter am nächsten Morgen in den Verlag. Auf der Fahrt im Taxi dorthin fragte Claire halbherzig, ob er denn keinen Unterricht versäume. Energisch schüttelte er den Kopf – »Fällt aus. Wäre ich sonst hier?« –, und als wir vor dem vertrauten, rußgeschwärzten Gebäude hielten, schien sie diesen Unsinn dankbar akzeptiert zu haben. Oben in den Räumen des Verlages hatte sich nichts verändert. Altmodisch, beengt, betriebsames Schnarren der Telefone, Faxe und Computer. Im hinteren Teil des Büros sah ich Herzen über seine Tastatur gebeugt, die Schultern wie von unsichtbaren Haken bis zu den Ohren hochgezogen.
    Mit ausladenden Gesten stellte Claire ihren Sohn, den College-Studenten, vor, als sei er gerade aus dem Krieg oder einem anderen gefährlichen Abenteuer zurückgekehrt. Ihre Angestellten lächelten und klopften Luke auf die Schulter, eifrig bemüht, die Peinlichkeit der Situation zu überspielen. Claire führte Luke zum Konferenztisch, reichte ihm einen Becher Kaffee und fragte ihn, ob er ein paar Manuskripte für sie durchsehen wolle. Er schüttelte den Kopf: »Nein danke. Mach nur deine Arbeit, Mom. Ich komm schon klar.« Herzen drehte sich von seinem Schreibtisch weg, als er Lukes Stimme hörte, begrüßte ihn mit einer eigenartigen Geste, halb nickend, halb achselzuckend, teils unterwürfig, teils kampfeslustig.
    Ich sah zu Claire hinüber, die inzwischen zu ihrem Schreibtisch gegangen war und weder Herzen noch Luke Beachtung schenkte. Dem Rest der Belegschaft schien ihre Affäre verborgen geblieben zu sein, zumindest schien es so, als sei das der Fall. Herzen machte sich wieder an seine Arbeit, und ich prüfte Lukes Blick auf eine Reaktion. Ich erkannte nur das angedeutete Zucken des Kiefers, aber das genügte schon. Nichts hatte er verziehen.
    Kurz nachdem sich im Büro die Aufregung um unser Erscheinen gelegt hatte, stand Luke vom Konferenztisch auf und ging zu dem Bücherregal, das die Wand zwischen den

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