Der Andere
sie aus. Erinnere dich an damals im Herbst, als sie krank zu Hause war. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sein Besuch im Apartment der erste war, meinst du nicht auch? Und nun …«
»Sei still«, unterbrach er mich und sah sich um, um sicherzugehen, dass ihn niemand gehört hatte. »Ich habe es verstanden«, murmelte er. »Du hast recht. Und was nun?«
»Hier kommt deine Chance, es ihm heimzuzahlen!« Ich deutete auf die geöffnete Datei, an der ich Herzen hatte arbeiten sehen. »Die muss als erste verschwinden, und danach alle anderen.«
Luke sah mich kurz an, dann wieder auf den Computerbildschirm.
»Los, beeil dich«, drängte ich. »Er ist gleich wieder zurück.«
Wir sahen uns kurz im Raum um. Niemand beachtete uns. Die Leute saßen an ihren Schreibtischen und nahmen ihr Mittagessen zu sich oder plauderten am Telefon, die Stimmung war gelöst. Neben der Tür sahen wir Claire über den Schreibtisch eines Kollegen gebeugt, während sie einen Kalkulationsbogen durchging. »Der kann mich mal!«, sagte Luke. Dann löschte er die offene Datei und gleich noch Dutzende andere, ganze Ordner mit abgeschlossenen Redaktionen und Vertragsentwürfen. Herzens kompletten Fundus an Arbeitsunterlagen verschob er in den digitalen Papierkorb, wo alles in bedeutungslose Bytes zerlegt wurde.
»Das hätten wir«, sagte Luke.
»Nicht ganz.« Ich deutete auf den geöffneten E-Mail-Account von Herzen. »Das hier ist das Beste.«
Rasch verfassten wir eine Mail an Claire. Kurz und knapp, ordinär und unverzeihlich. Ich zeigte Luke, wie man sie auf den späteren Abend umdatierte. Das hatte ich von Nate gelernt, als ich ihm über die Schulter gesehen hatte, wie er mit seinen Freunden am Computer herumspielte. Und in diesem Augenblick war es auch nicht wichtig, dass unser Trick nicht lange verborgen bleiben und es für Herzen ein Leichtes sein würde, seine Unschuld zu beweisen. In diesem Moment schien es unglaublich abstrakt und weit weg. Wir würden längst zurück im College sein, wenn der Anruf kam. Claire wäre außer sich und so weiter, na und, wenn schon!
Wir drückten auf Senden und sahen zu Claire hinüber, die inzwischen wieder an ihrem Schreibtisch saß.
»Mom«, Luke legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich dachte, wir könnten vielleicht noch etwas essen gehen, bevor ich den Zug nehme.«
»Oh«, antwortete Claire. »Ich dachte, du bleibst zum Abendessen.«
»Tut mir leid, aber ich muss zurück.«
»Ist schon gut. So ändern sich Pläne.« Sie steckte ein paar Unterlagen in ihre Tasche, sah ihren Sohn an und lächelte. »Woran hattest du gedacht?«
3 . Kapitel
N ach unserer Rückkehr auf den Campus suchten wir gleich Richard in seinem Zimmer im Wohnheim auf. Schlaftrunken öffnete er uns die Tür, setzte beim Anblick von Luke in natura aber schnell sein Lächeln auf. »Wo warst du, verdammt noch mal«, wollte er wissen und zog uns hinein. Luke bedauerte, dass er am Samstagabend verschwunden war, bedauerte auch, dass er für ein paar Tage sozusagen »im Kampf vermisst« gewesen sei. Er hoffe, dass er nicht verärgert sei. Richard nickte gönnerhaft und sagte uns, dass er sich Sorgen gemacht habe. »Die Nacht war echt wild, ich habe auch flachgelegen.«
Luke und Richard zogen eine Line, um dessen Rückkehr in die Familie zu feiern, und beide lachten sie wie Schakale, high wie Ballons am wolkenlosen Wüstenhimmel, völlig fertig und in Hochstimmung um sechs Uhr an einem Dienstagnachmittag im November.
»Ich bin dir was schuldig«, zwinkerte Richard Luke zu. »Nachdem du weg warst, war das die beste Nacht, die ich seit langem hatte.« Du Miststück, dachte ich. Aber lächeln, immer nur lächeln. Er zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. »Hannah hat dich auch gesucht.« Er zuckte mit den Augenbrauen. »Sie will mehr von dem, was du ihr gegeben hast.«
»Klar«, sagte Luke. »Aber ich weiß nicht, ob das noch einmal passieren wird.«
Richard kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, und ich fragte mich, wie viel Hannah ihm erzählt hatte. »Aber ihr beiden fangt doch gerade erst an.« Wie ein Stier aus einem Comic atmete er durch die Nase aus. »Ich glaube, dass es ab jetzt nur noch besser werden kann.«
»Mal sehen«, sagte Luke. »Ich rufe sie an, wenn ich sie anrufe, in Ordnung?«
»Mach, was du für richtig hältst.« Richard zuckte die Schultern. »Ich will ja nur helfen.«
Sie redeten noch eine Weile, während ich mich in Richards hochgradig
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