Der Andere
beiden größten Fenstern bedeckte. Ich inspizierte die staubüberzogenen Buchrücken der kompletten Verlagsproduktion aus drei Jahrzehnten an Ermittlern, Täuschungen und unerklärlichem, unerbittlichem Bösen, das schlichte Nightingale-Logo Hunderte Male in Schwarz, Weiß oder Rot nebeneinander, wie ein nie enden wollender Vorgang der Evolution. Das Buch, nach dem Luke gesucht hatte, entdeckte ich im selben Augenblick wie er, aber er verbarg die Ausgabe von
Shadow Life
unter ein paar anderen, zufällig gewählten Titeln, als würde ich es nicht bemerken.
Ich stand neben ihm, während er las, wobei er das Buch so hielt, dass ich die Wörter nicht erkennen konnte. Das spielte jedoch keine Rolle, denn ich erinnerte mich noch sehr gut, auch wenn die Seiten jetzt frei von Venetias und Claires Gekritzel waren. Welche Textstelle es auch gewesen war, Luke hatte sie gefunden und schrieb sich ein paar Zeilen auf einem Stück Druckerpapier heraus. Er überflog das Papier, faltete es zu einem kleinen Viereck zusammen und ließ es in seiner Gesäßtasche verschwinden.
Während Luke weiterlas, beobachtete ich Herzen bei der Arbeit. Ein Manuskriptstapel türmte sich neben ihm, und mit einem Rotstift machte er Anmerkungen auf den Seiten, wobei er etwa alle zehn Minuten innehielt, um seine Änderungen in die geöffnete Datei in seinem Computer einzugeben. Er hatte die Angewohnheit, an der Haut zwischen seinen Augenbrauen zu ziehen und zu zupfen, sie zu verdrehen, als befände sich dort eine Schraube, die sein Gesicht und den darunterliegenden Knochen zusammenhielt. Er nahm einen Anruf entgegen und pflanzte seine großen schwarzen Stiefel dabei wie ein Cowboy auf den Schreibtisch. Ich beobachtete Claire, nur ein paar Tische entfernt, die ihren Computer links liegenließ, wie sie Anmerkungen kritzelte, die sie dann an ihre Mitarbeiter weiterreichte, die fortwährend mit gebührendem Respekt ihren Schreibtisch umkreisten. Obwohl er hinten in einer Ecke stand, bildete Claires Schreibtisch unmissverständlich das Zentrum des Büros, und ich stellte mir das schwarze Loch vor, das ihre Abwesenheit an den Tagen, an denen sie zu Hause blieb,unweigerlich hervorrufen musste.
Zur Mittagspause klopfte Herzen mit den Knöcheln im Vorbeigehen auf den Konferenztisch. »Brauchst du irgendetwas aus der Außenwelt, Kumpel?«
Luke schreckte von seinem Buch auf: »Was?«
»Etwas zu essen, meine ich.« Herzen bedachte ihn mit einem grimmigen Lächeln.
»Ich hab keinen Hunger, aber …« Luke deutete auf Herzens Schreibtisch. »Darf ich vielleicht an Ihren Computer, während Sie weg sind? Ich muss eine E-Mail verschicken.«
»Ja, natürlich.«
»Und …«
»Ja?«
Luke wedelte mit der Ausgabe von
Shadow Life
herum. »Diese Autorin. Hat sie noch mehr geschrieben?«
Herzen nahm das Buch und las den Klappentext. »Ach, ja. Die. Vor meiner Zeit, wie es aussieht, aber das Ganze ist ein bisschen anrüchig.«
»Worum ging es?«
»Diese junge Dame, Alexandra Tithe, war fünfundzwanzig oder so, als sie das Buch schrieb. Sie reichte das Manuskript ein und nahm sich eine Woche, bevor es erschien, das Leben.«
»Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Doch. Das Buch, so hieß es, sollte irgendwie autobiographisch sein, und das ist, wenn du es liest, ziemlich beängstigend. Sie hat sich ertränkt, genau wie das Mädchen in ihrer Geschichte.« Fast schien er sagen zu wollen,
und genau wie deine Großmutter,
hielt sich aber gerade noch zurück. »Hier.« Er reichte Luke das Buch zurück. »Auch so eine nette Nightingale-Press-Anekdote. Ich bin gleich zurück.«
Luke sah Herzen hinterher, dann stellte er den Roman an seinen Platz im Regal zurück und ging zu dem freien Schreibtisch. Luke war der Umgang mit Computern verhasst, und seine Mail erwies sich als vollkommen nebensächlich – eine Mitteilung an seinen Fotografieprofessor, dass er nicht in den Kurs kommen würde –, aber während ich geistesabwesend auf den Bildschirm starrte, erkannte ich die Gelegenheit, die sich bot.
»Du musst nicht antworten«, begann ich, »aber lass mich bitte ausreden.« Luke sagte nichts, was ich als Aufforderung auffasste, fortzufahren. »Claire kannst du erzählen, was du willst, aber ich weiß, dass du immer noch wütend auf Gregory bist, was ich dir nicht mal verübeln kann. Deine Mutter ist eine zerbrechliche Frau. Wir waren uns in unseren Empfindungen über sie in der Vergangenheit nicht immer einig, aber das ist kein Grund, diese Tatsache zu leugnen. Und Gregory nutzt
Weitere Kostenlose Bücher