Der Anfang aller Dinge: Roman (German Edition)
Damals war sie in einem Rolls herumchauffiert worden, von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Sie waren zu einer Geburtstagsparty in den Buckingham Palace geladen worden. Melinda hatte in einem hellrosa Organzakleid und einem breitkrempigen Hut vor der Queen geknickst. Liv erinnerte sich, wie gerne sie den Londoner Tower besichtigt hätte, doch ihre Mutter war der Ansicht gewesen, dass ein Besuch der National Gallery weitaus lehrreicher sei. Also hatte sie sich artig die Gemälde angesehen.
Einst, vor nicht allzu vielen Jahren, hatte Doug davon gesprochen, mit ihr nach London zu fliegen. Das war in ihrer Collegezeit gewesen, als sie noch Träume hatten. Doch sie hatten nie das Geld für die Flugtickets zusammengebracht. Und später war nicht mehr genug Liebe vorhanden gewesen, um ihre Träume zu verwirklichen. Energisch schüttelte Liv ihre trüben Gedanken ab. Jetzt war sie in London und es stand ihr frei, ein Pub oder den Tower zu besuchen oder mit der berühmten Untergrundbahn zu fahren. Aber es gab niemanden, mit dem sie ihr Abenteuer teilen konnte. Niemanden, mit dem …
»Liv.«
Nach Luft schnappend, drehte sie sich um und stieß mit Thorpe zusammen. Er hielt ihren Arm fest. Einen Moment lang starrte sie ihn an wie einen Geist.
»Allein?«, fragte er, ohne zu lächeln.
»Ja, ich …« Sie suchte nach Worten. »Ja, ich dachte mir, ich schaue mir ein bisschen die Stadt an.«
»Du wirkst ein bisschen verloren.« Er ließ ihren Arm los und steckte die Hand in die Tasche.
»Ich war nur in Gedanken.« Liv setzte ihren Weg fort, und Thorpe ging neben ihr her.
»Bist du schon mal in London gewesen?«
»Einmal, vor vielen Jahren. Und du?«
»In meiner schönsten Jugendzeit.« Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Thorpe gab sich ungewöhnlich zurückhaltend und Liv ermutigte ihn auch nicht. »Von den Terroristen gibt es immer noch nichts Neues«, bemerkte er nach einiger Zeit.
»Ja, ich weiß. Ich habe den Nachmittag vorm Scotland-Yard-Gebäude verbracht. Man nimmt an, dass es keine organisierte politische Gruppe war.«
Thorpe zuckte die Achseln. »Sie hatten ganz moderne Waffen, teure Waffen, schienen aber nicht zu wissen, wie man damit umgeht. Zum Glück blieben sie die einzigen Opfer dieser Aktion.«
»Ja, das war dumm«, murmelte Liv. Für einen kurzen, flüchtigen Moment hatten sie im Licht der Öffentlichkeit gestanden, dachte sie. »Was für ein sinnloser Tod.«
Wieder verfielen sie in Schweigen. Inzwischen brannten die Straßenlaternen. Sie gingen durch Licht, durch Schatten und wieder durch Licht. Plötzlich legte er ihr die Hand auf die Schulter. »Liv, heute Morgen flogen eine Menge Kugeln durch die Luft.«
»Ja.«
»Ein Wunder, dass niemand der Umstehenden tödlich getroffen wurde.«
»Ja.«
Sie machte es ihm nicht einfach. Thorpe schnaubte ungeduldig. »Wenn ich heute Morgen überreagiert habe, dann deshalb, weil ich dich nicht mehr als Reporterin gesehen habe. In dem Augenblick warst du für mich eine Frau und ich wollte nicht, dass dir etwas zustößt.«
Schweigend studierte sie sein Gesicht. »Ist das eine Entschuldigung?« , fragte sie ihn.
»Nein, eine Erklärung.«
Liv überlegte einen Moment. »In Ordnung.«
»Was ist in Ordnung?«
»Ich denke, das ist eine vernünftige Erklärung.« Jetzt lächelte sie. »Aber wenn du mir das nächste Mal in die Quere kommst, musst du damit rechnen, dass ich dir ganz unladylike den Ellbogen in die Rippen ramme. Verstanden?«
Thorpe nickte und lächelte jetzt ebenfalls. »Verstanden.«
»Hast du schon zu Abend gegessen, Thorpe?«, erkundigte sich Liv beiläufig.
»Nein, ich war bei Donaldson und habe mir den Tagesbericht abgeholt.«
»Hungrig?«
Thorpe musterte sie skeptisch. »Ist das eine Einladung, Olivia?«
»Nein, eine ganz gewöhnliche Frage. Antworte mit ja oder nein.«
»Ja.«
»Jemand hat mir einmal gesagt, dass Kollegen im fernen Ausland hübsch zusammenbleiben sollen«, bemerkte sie. »Was hältst du davon?«
»Ich würde mich dieser Meinung anschließen.«
»Dann komm, Thorpe«, sagte sie und hakte sich bei ihm unter. »Ich lade dich ein.«
9.
Sie landeten in einem lauten, überfüllten Steakhouse und fanden einen kleinen Ecktisch, der noch frei war. Entlang der Theke drängten sich die Gäste Schulter an Schulter. Es roch nach gegrilltem Fleisch und verbranntem Fett. An der Decke blinkten bunte Lichterketten.
»Romantisches Plätzchen«, kommentierte er. »Ich stehe auf Atmosphäre bei einem
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