Der Anfang aller Dinge: Roman (German Edition)
und starrte ihm wutentbrannt hinterher. Im Augenwinkel bemerkte sie Bob, der sie mit einem fragenden Blick ansah. Sie schnaubte frustriert und drehte sich zu ihm um. »Komm, und pfeif den Rest der Crew zusammen. Wir müssen arbeiten.«
Liv interviewte Sicherheitsbeauftragte, Zuschauer und Polizisten. Sie sprach mit einer blassen, schockierten Frau, die von einem Querschläger am Oberarm verletzt worden war. Liv musste sich mit Reaktionen der Schaulustigen und Mutmaßungen begnügen, da es immer noch wenig konkrete Fakten gab: vier bisher nicht identifizierte Männer in – anders konnte man es kaum bezeichnen – selbstmörderischer Mission.
Der Anschlag hatte vierundzwanzig Verletzte gefordert, wobei der überwiegende Teil der Verletzungen der entstandenen Panik zuzuschreiben war und nur wenige Schusswunden zu beklagen waren. Sechs Personen wurden ins Krankenhaus eingeliefert, zwei davon schwer verletzt. Liv kritzelte Dutzende Namen und die dazugehörigen Berufe der Opfer auf ihren Notizblock, während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte.
Falls die Terroristen die Absicht verfolgt hatten, die Beisetzungsfeierlichkeiten zu sabotieren, so hatten sie nicht mit der britischen Kaltblütigkeit gerechnet. Die Zeremonie wurde planmäßig in der jahrhundertealten Kathedrale abgehalten, während draußen die Presse und die Polizei ihre Arbeit taten.
Krankenwagen kamen und fuhren wieder ab, gemeinsam mit offiziellen Limousinen. Das Fahrzeugwrack wurde abgeschleppt, und noch lange bevor der Gottesdienst beendet war, ließ draußen auf der Straße nichts mehr erkennen, dass sich dort eben ein dramatisches Ereignis abgespielt hatte.
Von ihrem Standort aus beobachtete Liv, wie die Königliche
Familie die Kathedrale verließ. Falls man die Truppe der Sicherheitsbeamten verstärkt hatte, war das sehr diskret vonstatten gegangen. Liv wartete, bis die letzte Limousine abgefahren war. Sie rieb sich die schmerzende Stelle am Arm, wo sie vorhin im Gedränge jemand angerempelt hatte, und beobachtete, wie die Filmcrews ihre Gerätschaften zusammenpackten. Sie hatte stundenlang gestanden, ihr taten die Füße weh.
»Und jetzt?«, erkundigte sich Bob, der ebenfalls seine Kamera verstaute.
»Scotland Yard«, antwortete sie erschöpft und streckte die müden Glieder. »Ich habe das Gefühl, dass wir den Nachmittag über mit Warten verbringen werden.«
Ihre Vermutung sollte sie nicht trügen. Gemeinsam mit einer Horde Reporter von Fernsehen und Presse stand sie sich die Beine in den Bauch. Stunden später speiste man sie mit einer offiziellen Verlautbarung ab, die äußerst magere Informationen enthielt, und schickte sie ihrer Wege. Um sechs Uhr abends hatte sie ihrem Bericht nichts mehr hinzuzufügen als eine Rekapitulation der morgendlichen Ereignisse und die Erklärung, dass die Identität der Attentäter bisher noch nicht geklärt sei. Liv arrangierte einen letzten Stand-up vor dem Scotland-Yard-Gebäude und fuhr zurück ins Hotel.
Erschöpft ließ sie sich ein heißes Bad einlaufen und lag eine geschlagene Stunde in der Wanne, um abzuschalten. Doch nachdem sie sich abgetrocknet und ihren Bademantel angezogen hatte, fühlte sie sich genauso rastlos wie vorher. Das Zimmer war zu ruhig, zu leer, und die aufregenden Ereignisse des Tages hielten sie gedanklich immer noch auf Trab. Inzwischen bedauerte sie es, dass sie die Einladung ihrer Crew, mit ihnen zum Essen zu gehen, ausgeschlagen hatte.
Es war noch früh am Abend. Zu früh. Und die Aussicht auf einen weiteren Abend allein in einem Hotelzimmer behagte ihr gar nicht. Wenn sie wollte, gäbe es eine ganze Reihe Kollegen, mit denen sie sich auf einen Drink treffen könnte. Aber den ganzen Abend lang das Attentat durchzukauen und Spekulationen darüber anzustellen, danach stand ihr auch nicht der Sinn. Sie wollte London sehen. Sie ignorierte ihre Müdigkeit und begann sich anzuziehen.
Draußen war es recht kühl und die Luft war immer noch feucht und regenschwanger. Sie trug Pulli und Hosen und hatte einen leichten Mantel übergeworfen. Ohne darüber nachzudenken, wohin sie genau wollte, marschierte sie einfach los. Der abendliche Berufsverkehr hatte noch nicht nachgelassen; die Auspuffgase kitzelten sie in der Nase. Die Glocken von Big Ben schlugen acht Uhr. Wenn sie etwas essen wollte, sollte sie sich ein Restaurant suchen, dachte sie, marschierte aber unverdrossen weiter.
Unweigerlich wurden dabei Erinnerungen an ihren ersten Aufenthalt in London vor zwölf Jahren wach.
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