Der Angeklagte: Thriller (German Edition)
Glitsky aufgestanden und lief nun zwischen Tür und Schreibtisch hin und her. Die Narbe auf seiner Lippe schwoll an, bis sie sich in einen bedrohlichen weißen Strich verwandelt hatte. Er hockte sich auf die Schreibtischkante und pulte sich mit der freien Hand im Gesicht herum.
»Abe?«, fragte Treya nach Glitskys längerem Schweigen.
»Ja, ich bin noch da. Ist er weg?«
»Ja.«
»Bist du sicher?«
»Ich hab ihn wegfahren sehen.«
»Und beide Kinder sind bei dir?«
»Ja, wir sind alle okay. Ein bisschen durch den Wind, aber okay.«
Glitsky atmete tief durch. Ein zweites Mal.
»Abe?«, fragte sie wieder.
»Ja, ich bin immer noch dran. Ich denke nur nach.«
»Willst du vielleicht nach Hause kommen? Das wäre doch eine gute Idee. Warte, Rachel möchte dir ›Hi‹ sagen.«
Und bevor er Einwände erheben konnte, hörte er schon die Stimme seiner Tochter. »Hi, Daddy, Mom ist ganz aufgeregt. Ist alles okay?«
»Alles ist okay. Aber der Mann, der zu unserem Haus kam, ist ein böser Mann.«
»Dann solltest du ihn verhaften.«
»Ich weiß. Und ich glaube, das ist genau das, was ich auch tun werde. Bist du denn okay?«
»Ich hab nur Angst. Wegen Mom. Er hat ihr wirklich einen Schrecken eingejagt. Kommst du bald nach Hause?«
»So schnell es geht. Kann ich noch mal mit Mom sprechen?«
»Okay.«
»Hey«, sagte Treya.
»Trey, ich schicke einen Streifenwagen vorbei.«
»Warum? Ich glaube nicht, dass wir …«
»Darüber reden wir, wenn ich wieder zu Hause bin. Aber vorher schicke ich ein paar Leute vorbei, die den Vor fall zu Protokoll nehmen. Wenn sie klopfen, schau aber erst durch den Spion und stell sicher, dass sie es auch wirk lich sind, okay? Und lass bis dahin den Sperrriegel zu.«
»Ich hätte nie gedacht, dass Ro …«
»Ist schon gut«, sagte Glitsky. »Du bist mit dem Schre cken davongekommen. Jetzt sind wir schlauer und schauen zunächst immer durch den Türspion, okay?«
»Machen wir. Und wir warten jetzt auf dich.«
»In einer halben Stunde bin ich da. Lass bis dahin aber die Kinder nicht raus.«
»Mach dir keine Sorgen.«
»Tu ich auch nicht. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch. Komm schnell nach Hause.«
»Mach ich.«
Als er das Handy zuklappte, blickte er zu Jenkins hinüber. »Sie haben alles gehört?«
»Ro ist bei Ihnen zu Hause aufgetaucht?«
»Ist er.« Seine Schultern schienen unter der psychischen Belastung einzufallen. »Er legte Wert auf die Be merkung, dass Rachel ein hübsches kleines Mädchen sei.«
Glitskys Augen wanderten an die Decke und dann zurück zu Jenkins. Er atmete tief durch und schüttelte den Kopf.
»Was denken Sie?«, fragte sie.
»Genau das, was man in so einer Situation denkt: Ich blas ihm den Kopf weg.«
»Kann ich Ihnen nicht verdenken, aber man würde Sie festnehmen, und Sie würden im Knast landen.«
»Irgendjemand muss ihn doch stoppen.«
»Es gibt auch noch einen anderen Weg.«
»Effektiver als ihn umzunieten kann er nicht sein.«
»Sicher nicht. Aber effektiver für Sie. Verhaften Sie ihn.«
»Wes scheint davon nicht übermäßig begeistert zu sein.«
»Schon richtig, aber wir hatten bisher keinen konkreten Anlass, ihn zu verhaften. Jetzt haben wir einen.«
»Und zwar?«
»Gewaltandrohung gegen einen Polizisten. Nämlich Sie. Oder Mitglieder Ihrer Familie. Strafgesetzbuch Paragraf 69 oder 422, Sie können sich einen aussuchen. Beides gilt als schwere Straftat.«
»Stimmt das?«
Eigentlich hätte Glitsky sich nicht mehr wundern dürfen, dass Anwälte ganze Absätze aus dem Strafgesetzbuch auswendig kannten, aber er war immer wieder aufs Neue beeindruckt. Jenkins drehte sich auf ihrem Stuhl, schloss die Augen und sagte: »Paragraf 69: ›Jede Person, die durch Anwendung von Gewalt oder eine entsprechende Drohung einen Polizeibeamten davon abhält, seiner Aufgabe nachzugehen …‹ bla bla bla. Und hier ist 422: ›Wenn eine Person bei vollem Bewusstsein damit droht, eine Tat zu begehen, aus der der Tod oder der schwerwiegende körperliche Schaden einer anderen Person resultiert und dabei billigend in Kauf nimmt, dass die bedrohte Person diese Aussage …‹ – bla bla bla – ›als eine ernstzunehmende Drohung versteht‹, und jetzt kommt die wichtige Passage: › selbst wenn keine Absicht besteht, diese Drohung auch in die Tat umzusetzen , wobei die Drohung so unmissverständlich, unvorbehaltlos, unmittelbar und konkret ausgesprochen werden muss und die Ernsthaftigkeit der Absicht und die mögliche Umsetzung der Drohung so
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