Der Angeklagte: Thriller (German Edition)
hatte: dass nämlich eigentlich alle Angeklagten irgendwie schuldig seien – und es sein Berufsethos sei, die Leute trotzdem herauszupauken. Oder, was weit häufiger der Fall war, einen Vergleich auszuhandeln, der für den Angeklagten akzeptabel war. In der Realität eines Verteidigers ging es nur in Ausnahmefällen darum, einen Angeklagten komplett reinzuwaschen; meist handelte es sich um eine Reduzierung des Strafmaßes oder auch um Kaution. Und weil es so selten vorkam, verschwendete kein Verteidiger einen Gedanken daran, dass ein Angeklagter tatsächlich auch mal unschuldig sein könne.
Dass Ro Curtlee aller Wahrscheinlichkeit nach Felicia Nuñez umgebracht hatte, schreckte Farrell daher nicht ab. Er hatte schon früher Mörder verteidigt. Er würde nicht gerade behaupten wollen, dass es sich dabei um angenehme Zeitgenossen gehandelt hatte, aber zumindest zu einigen hatte er durchaus einen Draht entwickelt. Sie zeigten menschliche Regungen und hatten in ihrem Umfeld oft genug Menschen, um die sie sich sorgten: Mütter, Freundinnen, Kinder. Manchmal zeigten sie Reue ob ihrer Taten. Es waren nicht alles Seelen, die für immer verdammt waren.
Farrells persönliche Erfahrungen kollidierten folglich mit dem Rechtsverständnis von Glitsky und Jenkins. Als er am Morgen mit ihnen gesprochen und ernsthaft versucht hatte, ihre Argumente nachzuvollziehen, war ihm gleichzeitig bewusst geworden, wie sehr ihre Positionen auseinanderlagen.
In Farrells Augen war das Recht ein nicht dehnbares, objektives Instrumentarium, mit dem eine Gesellschaft ihre Meinungsverschiedenheiten klärte. Der Ermessensfreiheit waren enge Grenzen gesetzt. Und Moral war ein Faktor, der ohnehin nur höchst selten zum Tragen kam. Aber mit Sicherheit war das Gesetz kein Werkzeug, mit dem man selektiv die einen verfolgte – und andere, die das gleiche Vergehen begangen hatten, ungeschoren davonkommen ließ.
Glitsky und Jenkins hatten offenkundig kein Problem damit, die Rechtslage kreativ zu interpretieren, um Ro Curtlee wieder hinter Gitter zu schicken. Farrell hingegen war davon überzeugt, dass alles, was nicht mit der gleichen Elle gemessen würde, per Definition Unrecht sei. Und trotzdem glaubten Glitsky und Jenkins offensichtlich, dass sie das Recht und – mehr noch – die Moral auf ihrer Seite hatten.
Farrell wusste, dass es eine heikle und beunruhigende Gratwanderung war.
Als er in der letzten schlaflosen Nacht seine Verantwortung für die Freilassung von Ro Curtlee und den Tod von Felicia Nuñez überdacht hatte, war er letztendlich zur Überzeugung gekommen, dass er das Gesetz respektiert und korrekt angewendet hatte. Und genau dafür hatte man ihn gewählt. Dies war sein Job.
Aber was war von dem Vorschlag zu halten, eins seiner legitimen Instrumente – Grand Jury oder Voruntersuchung – in die Waagschale zu werfen, um auf diesem Wege Ro aus dem Verkehr zu ziehen? Der Vorschlag war durchaus vielversprechend, aber war er rechtens? Der Mann war nun mal bereits wegen Vergewaltigung und Mord verurteilt worden – und die erfolgreiche Berufung vor der Neunten Kammer hatte seine Schuld auch nie in Frage gestellt. Würde er aus einer armen Familie kommen, die eine Kaution von zehn Millionen Dollar nicht hätte aufbringen können, säße er auch weiterhin im Gefängnis und müsste dort auf die Wiederaufnahme des Prozesses warten.
Der Knackpunkt war am Ende folgender: Farrell wusste , dass Glitsky im Fall Nuñez keine eindeutigen Beweise gegen Ro Curtlee hatte. Ro hatte natürlich ein plausibles Motiv und vermutlich auch kein stichhaltiges Alibi, aber Farrell war nicht der Ansicht, dass er allein damit Ro Curtlee vor eine Grand Jury stellen könne. Die Frage des »hinreichenden Verdachts« war nicht entscheidend – Jen kins hatte völlig recht, dass dieser Begriff sehr dehnbar war. Ob mit oder ohne eindeutige Beweise: Die von ihr empfohlene Vorgehensweise könnte funktionieren. Und damit könnte man Ro aus dem Verkehr ziehen und ihn bis zur Prozesswiederaufnahme – oder zumindest fast bis dahin – unter Verschluss halten. Man musste aber schon eine gesunde Portion Zynismus haben, um das System so auszutricken. Und irgendwo ging es dann, in Farrells Augen zumindest, auch um die Moral.
Farrell wusste genau, dass er selbst kein Heiliger war. Er hatte mehr als genug Schwächen. Man brauchte dazu nur seine Frau und die in alle Winde verstreuten Kinder zu befragen. Aber eines war er mit Sicherheit nicht: ein Heuchler. Er hatte geschworen, das
Weitere Kostenlose Bücher