Der Angeklagte: Thriller (German Edition)
eine gräuliche Färbung angenommen hatte. Seine ganze Körpersprache deutete auf totale Erschöpfung hin, doch wenn er sprach, kamen seine Worte klar und präzise gesetzt. »Sie haben von Matt Lewis gehört.«
Es war keine Frage. Selbst wenn sich die Nachricht nicht schon wie ein Lauffeuer im Justizgebäude verbreitet hätte, wäre man ihr kaum entkommen: Sie war gestern Abend der Aufmacher bei allen lokalen TV -Stationen gewesen – und hatte am Morgen auch im »Chronicle« und »Courier« Schlagzeilen gemacht.
Bracco wusste, dass er auf der Tafel hinter seinem Kopf bereits als Chefermittler in drei Mordfällen geführt wurde: einer Schießerei zwischen zwei Gangs im Mission District, der Misshandlung eines Babys mit tödlichen Folgen im Sunset District – und dem Tod eines 50-jährigen Versicherungsvertreters, der letzte Woche vor »Alfred’s Steak House« erstochen wurde. Diese Ermittlungen, dachte Bracco, gingen schon hart an sein Limit, zumal er in letzter Zeit solo arbeiten musste.
Und nun fragte Glitsky auch noch, ob er von Matt Lewis gehört habe. Bracco sagte: »Klar. Furchtbare Sache. Und ich übernehme den Fall auch, wenn es keine andere Wahl gibt. Aber sollte sich jemand anderes drum reißen, wäre ich auch nicht unglücklich. Mein Teller ist randvoll.«
»Ich frage Sie nicht, ob Sie den Fall übernehmen, Darrel.«
»Sorry. Ich dachte nur …« Er zuckte die Schultern. »Bitte reden Sie weiter.«
»Was genau haben Sie über den Vorfall gehört?«
»Lewis? Nicht viel. Draußen im Mo« – so hieß die Lower-Fillmore-Gegend im Polizei-Slang – »kann alles Mögliche passieren. Wer übernimmt den Fall denn?«
»Bisher noch niemand. Vielleicht werde ich ihn selbst übernehmen.« Glitsky drehte seine Tasse auf dem Schreib tisch. »Sie haben also noch nichts Konkretes gehört?«
»Nein.«
»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, dass Matt Ro Curtlee beschattet hat?«
Bracco ließ sich keine Überraschung anmerken. »Davon ist bislang noch nichts durchgedrungen.«
»Nein.«
»Trifft es denn zu?«
»Kann man so sagen.«
In allen Fernsehberichten hatte Glitsky ganz bewusst Wert auf die Feststellung gelegt, dass es noch keinen Verdächtigen oder auch nur auffällige Personen gäbe. Es handele sich wohl um einen Mord im Drogen- oder Gangmilieu, aber Genaueres könne er noch nicht mitteilen. Die Ermittlung habe gerade erst begonnen.
»Und das bedeutet …?« Bracco tappte noch immer im Dunkeln.
»Ich brauche einen Freiwilligen, der Curtlees Anwalt anruft und um einen Termin zur Befragung bittet. Aus bekannten Gründen kann ich das nicht selbst tun – Denardi würde dem nie zustimmen. Andererseits sollten wir aber fragen. Ich möchte nicht, dass es nachher heißt, wir hätten Ro nie die Chance gegeben, seine Sicht der Dinge zu erklären.«
»Und wenn er zustimmen sollte: Wollen Sie dann, dass ich ihn auf den Lewis-Fall anspreche?«
»Und auf den anderen Fall: Janice Durbin.«
»Sagt mir nichts.«
»Am Freitag verbrannte sie in ihrem Haus. Genau wie Felicia Nuñez, die eine Zeugin in Ros Prozess war. Und wurde vorher, wie Felicia, stranguliert. Und: Janice Durbin war die Ehefrau des Geschworenensprechers in Ros Prozess.«
»Sieht nach einem Muster aus.«
»Sie sind ein helles Köpfchen. Der Lewis-Fall beziehungsweise die Tatsache, dass er Ro beschattet hat, gibt uns nun einen hinlänglichen, sogar sehr plausiblen Grund, Ro zu fragen, was er gestern Nachmittag gemacht hat. Und bei der Gelegenheit auch gleich nach seinem Alibi für Janice Durbin zu fragen – so er denn eins haben sollte.«
»Glauben Sie denn, dass er reden wird?«
»Mit Sicherheit nicht. Aber wir sollten das trotzdem durchziehen.«
»Und Lewis hatte ihn wirklich beschattet?«
»Glauben Sie, Darrel, ich saug mir so was aus den Fingern?« Kaum hatte er registriert, wie barsch seine Stimme klang, hob er die Hand und entschuldigte sich. »Sorry«, sagte er, »hab letzte Nacht nicht geschlafen. Und ja: Lewis hat ihn beschattet, zumindest bis etwa eine Stunde vor der Tat. Zu diesem Zeitpunkt hatte er den letzten Kontakt zu Amanda Jenkins. Er befand sich vor dem ›Tadich’s‹, wo Ro seinen Anwalt traf.«
»Und was dann?«
»Ro kam raus und stieg zu seinem Chauffeur ins Auto.«
»Und Lewis folgte ihnen?«
»Das waren jedenfalls seine letzten Worte. Was danach passierte, wissen wir nicht.«
Bracco überlegte und nickte dann kurz entschlossen. »Das reicht mir.«
Es war Kindergartentag bei der Staatsanwaltschaft.
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