Der Angeklagte: Thriller (German Edition)
eigentlich auch nicht. Das Gleiche bei den Cafés: An jeder Ecke gab’s nun ein Starbucks. Wer hätte das vor ein paar Jahren auch nur ahnen können?
In diesem Zusammenhang hatte Tiffany von einem anderen Phänomen berichtet, das in San Francisco immer populärer wurde. Zunächst habe sie’s auch nicht glauben wollen, aber Bekannte, die es mit eigenen Augen gesehen hatten, hatten ihr erzählt, dass es inzwischen ziemlich verbreitet war: dass sich wildfremde Leute trafen und dabei demonstrativ ihre Waffen zur Schau stellten. Meist verabredeten sie sich über Twitter, Facebook oder andere Internet-Communities, von denen Ro noch nie gehört hatte, aber irgendwie schafften sie es, sich kurzfristig in einem Starbucks zu treffen, um für das von der Verfassung garantierte Recht auf das Tragen einer Waffe zu demonstrieren. Wenn dort all die Leute mit den Pistolen in ihren Holstern aufkreuzen würden, käme man sich vor wie im Wilden Westen.
Jeden Tag, sagte sie, fänden inzwischen solche Treffen statt, warum ausgerechnet bei Starbucks wusste sie nicht. Gerade am letzten Wochenende hätten sich über siebzig Leute in Baker Beach eingefunden, alle mit ihrer Knarre. Ganz schön verrückt, oder?
Ro wollte nicht widersprechen.
Der Knackpunkt war natürlich, dass die Waffen nicht geladen sein durften. Es gab Vorschriften auf Stadt-, Landes- und Bundesebene, die das öffentliche Tragen ge ladener Waffen verboten. Aber zu Ros Überraschung war das Tragen ungeladener Waffen – so sie nicht unter der Kleidung versteckt wurden – nicht nur nicht verboten, sondern wurde von der US -Verfassung sogar ausdrücklich legitimiert.
Was natürlich völlig gaga war. Man konnte eine ungeladene Waffe und gleichzeitig ein Magazin bei sich tragen – und das Laden ging ja wirklich im Handumdrehen. Doch es war nicht die Weltanschauung dahinter, die Ro faszinierte, sondern die Tatsache, dass Leute tatsächlich ungeniert mit ihren Waffen durch die Gegend liefen. Er hatte Eztli vorgeschlagen, dass sie mal durch die Stadt fahren und die Augen aufhalten müssten – und genau das hatten sie auch getan.
Es war gegen fünf am Nachmittag, und sie wollten die Suche gerade schon abbrechen, als ihnen bei einem Starbucks an der Fisherman’s Wharf doch noch das Glück lachte. Als sie vorbeifuhren, konnten sie sehen, dass das Café nicht nur ungewöhnlich voll war, sondern bemerkten auch drei parkende Streifenwagen vor dem Eingang. Weder Ro noch Eztli hatten Angst vor der Polizei, zumal es sich in diesem Fall um harmlose Streifencops handel te. Falls überhaupt, machte ihre Anwesenheit die Sache nur noch prickelnder. Eztli fuhr also in eine Parkgarage um die Ecke, schüttelte die Patronen aus seiner Pistole und steckte die leere Waffe in seinen Gürtel. Er ließ seine Jacke im Auto zurück, damit nur ja keine Missverständnisse entstehen konnten, ob die Waffe nun verdeckt war oder nicht.
Und dann spazierten sie die Straße hinunter, um sich den Laden mal anzuschauen.
Und tatsächlich, etwa fünfunddreißig oder vierzig Per sonen standen im Café, allesamt bewaffnet, und hielten sich an ihren Latte Macchiatos fest. Die etwa acht uniformierten Cops machten die Runde und stellten höflich, aber bestimmt sicher, dass keine der Waffen geladen war. Alle Teilnehmer – die meisten dem Aussehen nach Berufstätige – verhielten sich völlig zivil. Überwiegend waren es Männer, aber auch sieben, acht Frauen waren darunter – mehr als Ro gedacht hätte.
Als Ro das Café betrat, war er – die Bedienungen ausgenommen – vermutlich der einzige Anwesende, der keine Waffe trug.
Sie bestellten einen Kaffee – noch immer high vom letzten Joint – und blieben, bis sich die Versammlung langsam auflöste. Wie erwartet, wurden sie von den Cops weder erkannt noch behelligt. Vor der Parkgarage warteten sie, bis einer der Teilnehmer an ihnen vorbeiging und in die Toreinfahrt einbog. Es war ein rundlicher Mann mit Glatze und Anzug, der in seinem Holster eine große Halbautomatik mit maßgefertigtem Griff trug.
Eztli hatte sich geräuschlos von hinten genähert und den Mann mit einem gezielten Nackenschlag niedergestreckt. Nicht einmal fünf Minuten später – Ro hatte sich Pistole und Munition bereits eingesteckt – rasten sie mit Vollgas aus der Garage und konnten sich vor Lachen gar nicht mehr einkriegen.
Inzwischen war es kurz nach elf, und Ro hatte den Fernseher abgeschaltet. Er war nicht ansatzweise müde, aber tödlich gelangweilt – und wenn er
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