Der Angeklagte: Thriller (German Edition)
nachkippen, wenn du magst.«
Michael holte sich ein Glas, füllte es mit Eis und Bourbon und ging dann hinüber, um Kathys Glas nachzufüllen. Er setzte sich auf den Hocker neben sie und nahm einen Schluck. »Ist Jon wieder zurück?«, fragte er.
»Noch nicht. Er hat mir eine SMS geschrieben, dass er woanders übernachten würde.«
»Bis wann?«
Sie schaute ihn an. »Bis er zurückkommt, würde ich sagen. Er ist okay, Michael. Alles wird wieder ins Lot kommen.«
»Er hält es für möglich, dass ich Janice umgebracht habe.«
Sie schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Er ist halt völlig durcheinander. Alle sind durcheinander, aber jeder zeigt es auf seine Weise.«
Er nahm noch einen Schluck. »Wo stecken denn die anderen?«
»Die Mädchen sitzen vor dem Fernseher, Peter ist schon schlafen gegangen, und Chuck ist auf dem College.«
»Auf dem College?«
»Er muss schriftliche Arbeiten benoten.« Sie nippte an ihrem Drink. »Es hört nie auf.«
»Ich weiß nicht, woher er die Energie nimmt.«
Sie zog ein Gesicht, das er nicht deuten konnte. »Er spart sie sich an anderer Stelle.«
Unsicher, wie er die Aussage interpretieren sollte, nickte Michael zustimmend. »Schätze ich auch.«
Beide nahmen erneut einen Schluck.
»Das hätte ich nicht sagen sollen«, sagte Kathy. »Ich glaube, ich bin schon betrunken.«
»Ist völlig okay. Du hast es dir verdient.«
»Nein, ich sollte Chuck nicht kritisieren. Aber manchmal fällt es mir so schwer. An einem Tag wie heute, wo Millionen Leute rein- und rausmarschieren, wo so viele Gefühle aufgewirbelt werden … dann denkt man sich schon mal, wie schön es wäre, wenn dein Mann nicht wieder zur Arbeit ginge, sondern bei dir bleiben würde, wenn es … ich weiß nicht, wenn es so wäre wie früher.« Sie schluchzte, wieder rollten Tränen über ihre Wangen. »Ich muss daran denken, wie die arme Janice ohne jede Warnung gestorben ist. Erst steht sie noch mitten im Leben – und dann ist sie für immer verschwunden, und man fragt sich unweigerlich, was wirklich wichtig ist und warum man sich mit diesen Banalitäten abgibt und nicht mehr Zeit mit der Person verbringt, die man doch angeblich liebt und die einen braucht – anstatt die verdammten Hausarbeiten der bescheuerten Studenten zu benoten.«
Sie wischte ihre Tränen mit der Hand ab, nahm noch einen Schluck und setzte das Glas ab. »Tut mir leid, Michael, es tut mir so leid. Ich weiß selbst nicht, was ich da erzähle, ich bin noch immer nicht ganz bei mir. Ich fühle mich so einsam. Mutterseelenallein. Ich weiß, dass du das verstehst.«
»Tu ich.«
»Ich sollte nicht so wütend auf Chuck sein. Es liegt nicht an ihm. Ich habe so eine Wut auf die ganze Welt.«
»Sie hat es verdient«, sagte Michael. »Mir geht es genauso.« Er nahm sein Glas und trank es mit einem Schluck aus.
Dismas Hardy, der Partner in Wes Farrells alter Kanzlei, war Abe Glitskys bester Freund. Er lebte mit seiner Frau Frannie auf der 34. Avenue, Nähe Clement Street. Auch wenn es nicht direkt auf Glitskys Heimweg lag, so war es auch kein großer Umweg. Als er vorbeifuhr, brannte Licht im Wohnzimmer, und Rauch stieg aus dem Kamin. Und als ihm auf der gegenüberliegenden Seite auch noch ein freier Parkplatz entgegenlachte, reagierte Glitsky schnell, machte eine Kehrtwende und stellte den Wagen ab.
Hardy öffnete in verwaschenen Jeans, ausgetretenen Slippern und einem alten blauen Pullover die Tür seines viktorianischen Hauses. »Tut mir leid«, sagte er. »Wir kaufen nichts. Wahrscheinlich haben Sie das Schild am Toreingang übersehen.«
Und schloss die Tür vor seiner Nase.
Glitsky hätte klopfen können oder noch einmal läuten, aber das hätte bedeutet, dass er ihr kleines Spiel verloren gab, also steckte er seine Hände in die Jackentasche und stellte sich auf eine Geduldsprobe ein. Hardy hielt eine Minute lang durch und hätte es sicher noch länger geschafft, wenn nicht Frannie aufgekreuzt wäre. Sie öffnete die Tür und war sichtlich überrascht, dort Glitsky stehen zu sehen.
»Abe! Mein Gott, was seid ihr für Kinder. Wie lange hättest du da draußen denn noch gestanden?«
»So lange wie notwendig. Diz hätte die Tür früher oder später schon aufgemacht.«
»Hätte ich nicht«, sagte Hardy. »Er hätte ja nur klopfen müssen.«
»Nicht im Traum«, entgegnete Glitsky.
»Möchtest du denn vielleicht reinkommen«, fragte Frannie, »statt draußen in der Kälte zu stehen?«
»Das wäre ein netter Zug.«
»Sag ihm, er soll
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