Der Angeklagte: Thriller (German Edition)
runterkam, um beim Frühstück zu helfen. Sie kam jeden Morgen an Ros Schlafzimmer vorbei, klopfte leise und schaute ins Zimmer, ob er schon aufgestanden war, damit sie das Bett machen und aufräumen konnte. Aber nein, er war jeden Tag in seinem Bett gewesen. Hundertprozentig. Und sei erst dann runtergekommen, wenn seine Eltern beim Frühstück saßen.
Das waren nicht die Neuigkeiten, die Glitsky hören wollte.
Nachdem Bracco sein Büro verlassen hatte, saß er fast eine halbe Stunde da und brütete vor sich hin. Schließlich stand er auf und ging zu der Tafel mit den laufenden Ermittlungen und den zuständigen Ermittlern. An die weiße Stelle, an der bis heute Morgen noch der Name Felicia Nuñez gestanden hatte, schrieb er in Großbuchstaben JANICE DURBIN und dann, in das Rechteck daneben, GLITSKY .
Es würde ein langes, zähes Unterfangen werden, von einem Richter die Genehmigung zum Einblick in Janice Durbins Patientenkartei zu erhalten – und dann vielleicht auf eine Person zu stoßen, die zu der Psychiaterin nicht nur ein reines Patientenverhältnis pflegte. Es konnte Wochen dauern, vielleicht Monate, und am Ende keinerlei Früchte tragen, denn es gab nun mal unzählige Männer – und auch Frauen –, mit denen sie eine intime Beziehung gehabt haben könnte, ohne dass es sich dabei um einen ihrer Patienten handeln musste.
Und möglich war natürlich auch, dass es Michael Durbin war, der eine Affäre hatte, sich dabei die Geschlechtskrankheit einfing und dann seine Frau, vielleicht unabsichtlich, tötete, als sie die Infektion entdeckte und ihn damit konfrontierte. Aber die Vorstellung, dass Michael Durbin seine Frau getötet habe, beinhaltete natürlich auch, dass er selbst seine gesamten Gemälde zerstört haben musste – und eine solche Verzweiflungstat, glaubte Glitsky jedenfalls, war wohl nur jemandem zuzutrauen, der mit dem Rücken zur Wand stand.
Jedenfalls hatte er schon viel zu viel Zeit verstreichen lassen, weil er sich auf Ro Curtlee als Mörder versteift hatte. Janices Tod lag bereits elf Tage zurück, und zu sagen, dass die Spur schon kalt war, wäre wohl noch grob untertrieben gewesen.
Um 14.40 Uhr, nachdem er eine Stunde mit dem Antrag zur Durchsuchung ihrer Praxis verbracht hatte, stand Glitsky auf dem Gang eines langen flachen Bürogebäudes, das sich zwischen der Stonestown Mall und der San Francisco State University befand. Es war ein modernes, funktionales Gebäude ohne Schnickschnack. Janice hatte ihre Praxis in Büro 204, gleich neben dem Aufzug im ersten Stock. Glitsky stand vor dem Büro und schaute durch die halb geöffneten Jalousien hinein. Glitsky war sich sicher, dass er die gesamte Praxis einsehen konnte.
Es gab keinen Empfangsbereich, nur zwei einfache Sofas, die im rechten Winkel an den Wänden positioniert waren. Links befand sich ein flacher Schrank, in dem sie offensichtlich die Akten ihrer Patienten aufbewahrte. Gegenüber den beiden Sofas stand ein großer, roter Ledersessel mit einer Stehlampe und einem kleinen Telefontisch. An den Wänden hingen einige gerahmte Bilder, aber aufgrund der Reflektionen konnte Glitsky nicht ausmachen, welche Art von Kunst sie dort aufgehängt hatte.
Große Erkenntnisse hätten die Bilder ihm wohl auch kaum geliefert, dachte er. Die Praxis war jedenfalls sauber, aufgeräumt und schlicht.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Glitsky richtete sich auf und sah in das Gesicht einer attraktiven vollschlanken farbigen Frau Ende zwanzig, die Bürokleidung trug. Er stellte sich vor, zeigte seine Marke und sagte: »Wie Sie vielleicht wissen, wurde Dr. Durbin vor über einer Woche ermordet. Ich hatte die Hoffnung, mit einigen ihrer Nachbarn in diesem Gebäude zu sprechen, um vielleicht etwas Licht in die laufende Untersuchung bringen zu können.«
»In welcher Richtung?«
»In jeglicher Richtung, um ehrlich zu sein. Wir sind mit unseren Ermittlungen noch nicht allzu weit gekommen. Kannten Sie Dr. Durbin?«
»Nicht richtig. Man begegnete sich auf der Toilette oder grüßte sich im Flur. Ich konnte es nicht glauben, als ich hörte, was passiert ist. Niemand konnte es glauben. Man kann sich nie vorstellen, dass so etwas jemandem zustößt, den man kennt. Jemandem wie ihr.«
»Wie war sie denn?«
»Wie war sie? Höflich, sehr nett, eine Frau mit Stil, bodenständig – eine ganz normale Person.«
»Hatte sie vielleicht Freunde hier im Gebäude? Leute, mit denen sie sich traf?«
»Glaube ich nicht, nein. Womit ich nicht sagen möchte, dass sie keine
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