Der Angeklagte: Thriller (German Edition)
Viertel nach elf wurde Jon Durbin aus seiner Englischstunde zum Schulleiter gerufen. Als er im Sekretariat eintraf und seinen Namen nannte, schickte man ihn in eins der Besprechungszimmer am Ende des Gangs. Mit flauem Magen und weichen Knien – was in aller Welt war denn nun schon wieder passiert? – kam er zur Tür und klopfte.
Die Tür wurde von innen geöffnet, und er sah seinen Vater erst, als dieser die Tür wieder hinter ihm geschlossen hatte. Frustriert und wütend suchte er nach einem zweiten Ausgang. Er saß in der Falle. »Ich muss hier nicht bleiben. Lass mich raus.«
Michael Durbin stand mit dem Rücken zur Tür und bewegte sich nicht. »Ich möchte kurz mit dir sprechen«, sagte er. »Danach kannst du machen, was du willst.«
»Ich kann jetzt schon machen, was ich will. Ich habe dir nichts zu sagen.«
»Aber ich dir. Und es ist schnell gesagt: Ich habe deine Mutter nicht umgebracht. Ich weiß nicht, wie du auf diese Idee …«
»Wirklich nicht? Glaubst du, wir hätten nicht gehört, wie ihr euch die ganze Zeit gestritten habt?«
»Es war nicht die ganze Zeit . Sicher, wir hatten unsere Probleme. Das passiert nun mal zwischen Eheleuten. Aber ich habe sie nicht umgebracht. Wir haben versucht, unsere Probleme zu lösen, um weiterhin zusammenleben zu können. Manchmal wurde es dabei vielleicht ein bisschen laut.«
»Ha. Ein bisschen?«
»Na und, Jon? Wirklich. Die Probleme waren nun mal da und ließen sich nicht so einfach vom Tisch wischen. Okay?«
»Ich weiß schon, was die Probleme waren – oder zumindest das Hauptproblem.«
»Tatsächlich? Vielleicht könntest du mich aufklären?«
»Du und Liza. Kommt dir das bekannt vor?«
»Nein, es kommt mir überhaupt nicht bekannt vor.« Michael hatte seine Arme über der Brust verschränkt gehabt und ließ sie nun sinken. »Meinst du, wir könnten uns für eine Minute setzen?«
Im Zimmer befanden sich vier Stühle und ein Tisch. Jon zögerte zunächst, setzte sich dann aber doch auf den nächsten Stuhl. Sein Vater zog einen Stuhl heran, der neben der Tür an der Wand stand. Er wollte seinem Sohn nicht die Gelegenheit geben, plötzlich aufzuspringen und zu türmen. Er beugte sich vor, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, und schaute seinem Sohn direkt in die Augen. »Ich weiß nicht, wie ich dich davon überzeugen kann, aber Liza ist eine gute Freundin und nicht mehr. Da ist nie mehr gewesen.«
»Klar, und deshalb bist du auch gleich zu ihr gefahren, kaum dass die Trauerfeier vorbei war. Oder willst du das abstreiten?«
»Nein, natürlich bin ich zu ihr gefahren. Ich habe gelitten, Jon, und ich leide noch immer. Ich musste mit jemandem sprechen und hatte das Gefühl, Chuck und Kathy schon über Gebühr strapaziert zu haben. Ich wusste, dass Liza mir zuhören würde. Warum ist das so schwer zu verstehen? Ich hätte gedacht, du wärst der Erste, der das versteht. Du kennst mich doch am besten. Du hast es immer gewusst.«
Michaels eindringlicher Tonfall verfehlte seine Wir kung nicht: Jons offene Feindseligkeit schien zu bröckeln. Er hatte sich im Stuhl zurückgelehnt, die Hände auf den Schoß gelegt und studierte den Fußboden. Schließlich schaute er auf. »Aber was war denn mit all den Streitereien zwischen Mom und dir?«
»Ich weiß nicht, welche Streitereien du jetzt genau meinst, aber in den meisten Fällen ging’s ums Geld. Sie wollte ein größeres Haus – so wie das von Chuck und Kathy. Sie wollte, dass ich eine zweite Niederlassung eröffne – was ich aber nicht wollte. Ich hätte viel lieber weniger gearbeitet, um wieder mehr zum Malen zu kommen. Und das ist der andere Punkt: Glaubst du wirklich, dass ich meine eigenen Bilder zerstört hätte?«
»Weiß nicht. Wenn es der einzige Weg war, die Cops von deiner Fährte zu lenken.«
»Herr im Himmel.« Michael ließ seinen Kopf auf die Brust sinken und schüttelte ihn langsam. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich bei dir falsch gemacht habe, dass du denkst, ich wäre zu all diesen Dingen fähig. Nichts davon habe ich getan – keine Liza, keine Gemälde aufgeschlitzt und auch deiner Mutter kein Haar gekrümmt.«
»Warum konntest du dann nicht mal erklären, was du an diesem Morgen gemacht hast?«
»Ich fuhr zum Büro, dachte an die Arbeit, dachte daran, wie ich mehr Geld verdienen kann, machte mir Sorgen um meine Beziehung und darüber, dass Ro Curtlee wieder auf freiem Fuß ist. Ich hab mich nicht auf die Fahrt konzentriert und auch nicht auf die Verzögerungen
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