Der Angstmacher
aufzumachen.
Man dachte über den toten Jens nach, aber auch über Sally Saler, die verschwunden war, und man sah die vergangene Nacht plötzlich in einem anderen Licht.
Anni Beckers, das zierliche Mädchen mit den dunklen, braunen Haaren, konnte das Schweigen nicht mehr länger ertragen. »Ich weiß nicht, wie ihr denkt«, sagte sie, »aber für mich ist Sally noch immer unschuldig, solange das Gegenteil nicht bewiesen wurde.« Sie saß auf der Bettkante und schaute ihre Kollegen auffordernd an.
Niemand wollte so recht antworten. Gérard traute sich schließlich. »Ich kann mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, daß sie Jens getötet hat.«
»Wer spricht denn von Mord?« regte sich der junge Mann aus Italien auf.
»Aber Jens ist tot.«
»Hör auf, Gérard! Er ist einem Herzschlag erlegen. Nennst du das etwa Mord? Dann würden auf der Welt jeden Tag unzählige Morde geschehen. Denk mal nach, wie viele Menschen durch einen Herzschlag ums Leben kommen.«
Die anderen stimmten ihm zu.
»Und was machen wir?« fragte Anni.
»Wir bleiben hier hocken!« erklärte Claudia Kolter. Sie stammte aus Wien und spielte Querflöte. Das blonde Haar hatte sie an den Seiten zu Zöpfen geflochten, so daß sie wie ein junges Mädchen wirkte.
»Das will ich auch nicht!« rief Anni.
»Hast du einen besseren Vorschlag?« Ivan, ein junger Mann aus Polen, hatte gefragt.
»Ja.«
Nach dieser Antwort richteten sich die Blicke der Anwesenden auf Anni Beckers. Jeder war gespannt, was sie zu sagen hatte. Anni schob die Brille etwas höher und strich eine Haarsträhne zur Seite, die sie störte.
»Ich bin der Meinung, daß Sally dieses Gelände nicht verlassen hat. Wir sollten sie suchen.«
Ihr Vorschlag traf auf keine große Gegenliebe. Die meisten hoben die Schultern oder blickten zu Boden. Ihnen allein schwebte das Schicksal des Jens Andersen noch vor Augen.
»Seid ihr feige!« rief Anni.
»Nein, das nicht, aber nicht lebensmüde.«
»Dann haltet ihr Sally für schuldig?«
»Indirekt schon«, erwiderte Claudia Kolter.
»Das mußt du uns erklären!« rief Gérard, der an Sallys Unschuld glaubte.
»Kann ich nicht.« Claudia schüttelte den Kopf, daß die Zöpfe flogen.
Dubois lachte kratzig. »Und was ist mit euch anderen?« fragte er und schaute in die Runde.
Man schwieg.
»Das habe ich mir gedacht. Keine Meinung ist auch eine Meinung.«
»Mach du doch einen Vorschlag«, sagte Ivan.
Dubois schaute auf. »Ich?« Er nickte. »Ja, ich werde einen Vorschlag machen. Wenn ihr nicht einverstanden seid, setze ich ihn eben in die Tat um. Wir sollten nicht länger hier herumsitzen, sondern versuchen, Sally zu finden. Wir verlassen das Haus und durchsuchen das Gelände. Dabei können wir ja Zweiergruppen bilden und…«
»Glaubst du nicht, daß Kimmler durchdreht?«
»Wir stellen ihn vor vollendete Tatsachen!«
Ivan hob die Schultern. »Wenn du mich so fragst, ich bin dabei. Ihr auch?« Er schaute in die Runde.
Anni Beckers, eine sehr energische Person, meldete sich: »Ich bin für Gérards Vorschlag.« Sie erhob sich, als wollte sie zur Tür gehen. Die anderen blieben sitzen, auch Dubois, Anni Beckers blieb deshalb stehen. »Hört ihr das?« hauchte sie.
Sie alle hatten es vernommen und nickten. Es war ein leiser Klang, der gegen das Haus wehte und durch das offene Fenster drang. Sie besaßen ein gutes Gehör, und der Klang einer Harfe war sowieso etwas Besonderes.
»Sie ist in der Nähe!« hauchte Dubois. »Ja, ich spüre es. Sie will etwas von uns…«
Keine Reaktion, doch alle taten, ohne sich abgesprochen zu haben, das nächste gemeinsam.
Sie standen auf, sofern sie noch saßen, und schauten zum offenen Fenster und lauschten. Waren sie vor wenigen Sekunden noch normal gewesen, so begannen sie sich unter den Klängen der Harfe zu verändern.
Alle bekamen Gänsehaut. Bei einigen richteten sich die Haare auf, als sprächen diese auf irgendein Kraftfeld an.
Acht junge Musiker lauschten den lockenden Klängen der Harfe, die für sie etwas Besonderes hatten.
Es war Gérard Dubois, der sich als erster umdrehte. Auf seinem Gesicht lag nach wie vor die zweite Haut, doch die Farbe hatte sich verändert. Sie war bleich geworden und glich einer Leiche. Der Mund stand offen. Selbst die Lippen wirkten blutleer. Der starre Blick war auf die Tür gerichtet. Dann hob Gérard den rechten Arm mit einer roboterhaft anmutenden Bewegung und deutete auf den Ausgang.
»Wir müssen gehen!« hauchte er.
Niemand widersprach ihm, alle
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