Der Angstmacher
nicht!«
»Und weshalb nicht?«
Er lachte scharf. »Wie soll ich den Leuten erklären, weshalb wir verschwinden und das Konzert ausfallen lassen. Soll ich ihnen sagen, daß Sally Saler auf einem verfluchten Instrument spielt? Das glaubt mir doch keiner. Nein, Sie müssen sich etwas anderes einfallen lassen.«
»Es geht um Leben und Tod. Die nächste Nacht wird schrecklich, Dr. Kimmler. Das habe ich im Gefühl.«
»Darauf kann ich doch keine Rücksicht nehmen.«
»Im Prinzip haben Sie recht. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. Ich werde…«
Was ich wollte, sagte ich nicht mehr, denn der Wirt trat an unseren Tisch. In der Hand hielt er einen Briefumschlag. »Hier«, sagte der dunkelhaarige Mann mit dem dicken Bierbauch, »den habe ich soeben in der Küche gefunden.« Er schaute mich an. »Sind Sie vielleicht Herr Sinclair?«
»Derbin ich.«
»Dann ist der Brief auch an Sie adressiert worden.« Er legte ihn auf den Tisch.
Auf dem Umschlag standen die Namen Dr. Kimmler und John Sinclair. Beide mit blutrotem Stift geschrieben, als wäre dies ein drohendes Omen für die Zukunft.
»Bitte, öffnen Sie«, sagte der Dirigent. »Ich… ich habe im Moment nicht die richtigen Nerven.«
»Natürlich.« Auf meinen strengen Blick hin zog sich der Wirt wieder zurück.
Mit dem Finger schlitzte ich den Umschlag auf und holte einen Zettel hervor. Die Worte waren mit einem normalen blauen Kugelschreiber geschrieben worden, dennoch hatten sie nichts von ihrer drohenden und inhaltsschweren Bedeutung eingelöst. »Soll ich vorlesen?«
»Ja, tun Sie das.« Dr. Kimmler saß vor mir und hatte die Hände zusammengelegt. Dennoch zitterten sie.
»Diese Nacht wird die Nacht des Blutes. Ein finsterer Götze ist erwacht und wird umgehen. Hütet euch vor dem Angstmacher. Er wird kommen, schauen und töten…«
Mehr war nicht geschrieben worden. Ich hatte leise gesprochen, und Dr. Kimmler war weiß wie eine Leinwand geworden. »Das… das ist doch kein Bluff — oder?«
»Nein, sie meint es ernst.«
»Was tun wir?«
»Es auch ernst nehmen.«
Dr. Kimmler war natürlich mit dieser Antwort nicht zufrieden, ich ebenfalls nicht, doch mir war nichts Besseres eingefallen. Sie wollte eine Nacht des Blutes. Das hieß, daß nicht nur mein Blut fließen würde, sondern auch das anderer Menschen.
»Jetzt sind Sie auch mit Ihrem Latein am Ende, Mr. Sinclair, wie?«
»Nicht ganz.« Ich schaute aus dem Fenster. Es war noch nicht dunkel geworden. Zeit fürs Abendbrot. Hunger würde nach diesen Vorkommnissen niemand haben.
»Sehen Sie dort draußen die Lösung?« fuhr mich Dr. Kimmler an.
»Das nicht, aber im Prinzip hat es schon damit zu tun. Sie hat uns mitgeteilt, daß es eine Nacht des Blutes wird, nicht wahr?«
Kimmler, der eine Gänsehaut bekommen hatte, nickte hastig. »Noch haben wir keine Nacht. Fis ist hell. Die Dämmerung wird erst später eintreten. Es gibt eine Chance.«
»Wie meinen Sie das denn?«
»Ich werde gehen und sie suchen. Ich muß sie finden, bevor sie ihr Grausen startet.«
»Und das schaffen Sie?«
»Was weiß ich. Es ist einen Versuch wert.« Ich schob den Stuhl zurück und stand auf.
»Kann ich noch etwas für Sie tun?«
»Ja, Dr. Kimmler. Sorgen Sie dafür, daß keiner Ihrer Schützlinge dieses Haus verläßt. Die Besucher sind auch verschwunden. Das Freilichtmuseum ist praktisch clean.«
»Ja, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht. Wissen Sie was, Mr. Sinclair? In Ihrer Haut möchte ich nicht stecken.«
»Ich manchmal auch nicht, Dr. Kimmler, glauben Sie mir…«
***
Wo sollte ich anfangen zu suchen?
Ich hätte eine Münze in die Höhe werfen können. Wenn Sie eine Zahl zeigte, dann fing ich im Westen an, zeigte sie den Kopf, nahm ich mir zuerst den Osten vor.
Es war fatal. Das Gelände war einfach zu gewaltig. Die Sonne hatte sich hinter dem Horizont verzogen. Da ihre wärmenden Strahlen den Erdboden nicht mehr erreichten, kühlte er sich auch ab, und die ersten feuchten Schwaden konnten hochsteigen.
Sie waren noch sehr dünn, kaum zu erkennen, aber sie würden später Sally einen zusätzlichen Schutz geben.
Am Nachmittag hatte ich beobachtet, zu welchem Haus die Beamten der Mordkommission gegangen waren. Auch ich schlug den Weg ein und sah eine offene Tür vor mir.
Ich betrat das Haus mit eingezogenem Kopf. In der Stille wirkten meine Schritte doppelt laut auf den mit Kreide gezeichneten knarrenden Bodenteilen. Ich schaute hinter den Holzstapel und sah dort die Umrisse des
Weitere Kostenlose Bücher