Der Anruf kam nach Mitternacht
Washington … am Nachmittag der Beerdigung …«
»Halt. Er hat Sie angerufen?«
»Er bat mich, zu ihm zu kommen. Die Verbindung brach ab. Er hat mir nicht gesagt, wo er war …«
»War es ein Ferngespräch?«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Und deshalb sind Sie abgeflogen. Aber warum nach London?«
»Das … das war nur so ein Gefühl. Hier war er zu Hause. Hier hätte er sein müssen.«
»Und wann haben Sie von Eve erfahren?«
»Nachdem ich hier eingetroffen bin. Die Empfangsdame des Hotels zeigte mir eine Adresse auf Geoffreys Anmeldekarte. Es war Eves Haus in Margate.«
Nick nahm diese Fülle neuer Fakten mit wachsender Verwirrung zur Kenntnis. Er zog sich einen Stuhl heran und sah Sarah aufmerksam an. »Sie haben mir gerade etwas zu denken gegeben«, murmelte er. »Dieser Anruf von Geoffrey … Er ist so abenteuerlich, dass ich beginne, Ihnen zu glauben. Sie müssen die Wahrheit sagen …«
»Ich sage die Wahrheit!«
»Gut, gut. Im Zweifelsfall für den Angeklagten.«
Nick fing an, ihr Glauben zu schenken. Das war alles, worauf es Sarah ankam, diesen winzigen Hoffnungsschimmer zu haben. Es bedeutete ihr im Augenblick mehr als alles andere auf der Welt. Verrückt!, dachte sie. Nach all dem, was sie an diesem Morgen durchgemacht hatte, kamen ihr erst jetzt die Tränen. Sie schüttelte den Kopf und lachte kurz auf. »Was haben Sie nur an sich, Mr. O’Hara?«, fragte sie. »Ich breche immer dann in Tränen aus, wenn Sie in der Nähe sind.«
»Ist schon in Ordnung«, beruhigte er sie. »Dass Sie weinen, meine ich. Frauen tun mir das immer an. Wahrscheinlich liegt das an meinem Job.«
Sarah blickte ihn an. Er lächelte. Welch überraschende Veränderung – von einem Fremden zu einem Freund. Irgendwie hatte sie vergessen, wie attraktiv er war. Nicht nur was sein Äußeres betraf. Sie spürte eine neue Zärtlichkeit, eine Zutraulichkeit in seiner Stimme, als ob er sich tatsächlich um sie sorgte. Wirklich? Oder interpretierte sie zu viel hinein? Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.
Er schien zu zögern und wirkte fast verlegen, als er sich zu ihr hinabbeugte. Sie zitterte. Sofort zog er seine Jacke aus und legte sie um ihre Schultern. Die Jacke roch nach Nick, und Sarah fühlte sich auf einmal warm und geborgen. Sie zog die Jacke fester um sich, und eine Ruhe kam über sie, ein Gefühl, dass ihr niemand etwas anhaben könne, solange Nick O’Haras Jacke um ihre Schultern lag.
»Sobald unser Mann vom Konsulat aufkreuzt, werden wir Sie hier herausbekommen«, sagte Nick.
»Aber sind Sie denn nicht damit betraut?«
»Ich fürchte, nein. Dies ist nicht mein Gebiet.«
»Warum sind Sie dann hier?«
Ehe Nick antworten konnte, wurde die Tür aufgestoßen.
»Nick O’Hara«, sagte ein stämmiger, untersetzter Mann. »Was zum Teufel machen Sie hier? Wenn ich richtig gehört habe, dann sind Sie nicht mehr bei uns. Stimmt das?«
Nick drehte sich zu dem Mann, der im Türrahmen stand, um. »Hallo, Potter«, grüßte er nach einer ausgesprochen peinlichen Pause. »Es ist schon lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Sarah. Sie war plötzlich alarmiert. »Warum sollte Mr. O’Hara nicht länger bei Ihnen sein?«
»Was er meint«, erklärte Nick gelassen, »ist, dass man mich auf unabsehbare Zeit beurlaubt hat. Die Neuigkeit hat sich schnell herumgesprochen, wie ich sehe.«
»Wenn es sich um die nationale Sicherheit handelt, ist das doch kein Wunder.« Mit einem Schulterzucken wandte Potter sich Sarah zu. »Ich habe Ihre Situation mit Inspektor Appleby besprochen. Er hat mir mitgeteilt, dass die gegen Sie vorliegenden Beweise nicht so stichhaltig sind, wie er angenommen hatte. Er ist bereit, Sie freizulassen – vorausgesetzt, dass ich die Verantwortung für Ihr weiteres Verhalten übernehme.«
Sarah war erstaunt. »Sie meinen, ich kann gehen?«
»Ganz richtig.«
»Und da ist kein … Ich bin nicht …«
»Die Anklage ist fallen gelassen worden.« Er streckte ihr die Hand hin. »Herzlichen Glückwunsch, Mrs. Fontaine. Sie sind wieder eine freie Frau.«
Sarah sprang auf und ergriff seine dickliche Hand. »Mr. Potter, herzlichen Dank. Haben Sie vielen Dank!«
»Keine Ursache. Machen Sie nur keinen weiteren Ärger, ja?«
»Oh, das werde ich nicht! Das werde ich ganz sicher nicht!« Sie sah freudig erregt auf Nick und erwartete, ein Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen. Aber er lächelte nicht. Stattdessen sah er völlig verblüfft aus. Und
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