Der Anruf kam nach Mitternacht
auf Nick, weil er sie in dieser hilflosen Situation miterlebte und weil er das Vertrauen, das sie in ihn als Freund gesetzt hatte, nicht rechtfertigte.
»Warum sind Sie in London?«, murmelte sie.
»Ich könnte Ihnen dieselbe Frage stellen. Aber diesmal möchte ich die Wahrheit hören.«
»Die Wahrheit?« Sarah sah auf. »Ich habe Sie nie belogen! Sie waren der Einzige …«
»Ach, lassen Sie das!«, unterbrach er sie kurz angebunden. Erbost sprang er auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Schenken Sie sich diesen Unschuldsblick, Mrs. Fontaine. Sie müssen mich für reichlich dumm halten. Zuerst behaupten Sie, von nichts zu wissen, und dann fliegen Sie überstürzt nach London ab. Ich habe mich gerade mit dem Inspektor unterhalten. Jetzt möchte ich Ihre Version hören. Sie wussten von Eve, nicht wahr?«
»Nein, ich hatte keine Ahnung von ihrer Existenz.
Jedenfalls bis gestern nicht. Und Sie sind derjenige, der gelogen hat, Mr. O’Hara.«
»In welcher Hinsicht?«
»Über Geoffrey. Sie erklärten mir, er sei tot. Oh, Sie haben mich mit all den schönen Beweisen versorgt, Sie erklärten alles so säuberlich, so perfekt. Und ich habe Ihnen geglaubt! Dabei wussten Sie es die ganze Zeit, nicht wahr? Sie haben es bestimmt gewusst!«
»Wovon sprechen Sie eigentlich?«
»Geoffrey lebt!«
Der ungläubige Blick, mit dem er Sarah jetzt ansah, war zu echt. Sie starrte ihn an und fragte sich, ob es wirklich möglich sei, dass er nichts davon gewusst habe.
»Ich halte es für besser, wenn Sie mir das genau erklären«, sagte er. »Und ich möchte alles wissen, Sarah. Weil Sie, wie Ihnen zweifellos klar ist, in den größten Schwierigkeiten stecken. Die Beweise …«
»Die Beweise sind lediglich Indizien!«
»Tatsache ist doch, dass man die Leiche Eve Fontaines gegen Mitternacht in einer verlassenen Gasse ein paar Häuserblocks vom Lamb and Rose entfernt gefunden hat – erstochen. Die Kellnerin des Lamb and Rose erinnerte sich daran, Eve mit einer Frau – einer Amerikanerin – gesehen zu haben, nämlich mit Ihnen. Sie wusste auch noch, dass Sie beide einen Streit hatten. Eve rannte aus dem Lokal, und Sie sind ihr gefolgt. Das war das Letzte, was man von Eve Fontaine gesehen hat.«
»Ich habe sie vor dem Lamb and Rose aus den Augen verloren!«
»Gibt es dafür einen Zeugen?«
»Nein.«
»Wie ärgerlich! Die Polizei hat in Eves Haus in Margate angerufen und mit dem Gärtner gesprochen. Der alte Mann konnte sich gut an Sie erinnern. Er sagte aus, er habe Ihre Nachricht an Eve per Telefon weitergegeben. Und zufällig besaß er auch diesen Zettel mit Ihrem Namen und dem des Hotels.«
»Ich habe ihm den Zettel gegeben, damit Eve mich anrufen konnte.«
»Nun, für die Polizei haben Sie ein eindeutiges Motiv – Rache. Sie fanden heraus, dass Geoffrey Fontaine ein Bigamist war, und beschlossen, die Sache zu klären. Das sind die Fakten, gute, klare und unwiderlegbare.«
»Das bedeutet doch aber noch lange nicht, dass ich sie umgebracht habe!«
»Nein?«
»Sie müssen mir glauben!«
»Warum sollte ich?«
»Weil es sonst niemand tut.« In diesem Augenblick wurde Sarah von Furcht und Erschöpfung überwältigt.
Sie senkte den Kopf und wiederholte leise: »Niemand sonst tut es …«
Nick beobachtete sie verwirrt mit gemischten Gefühlen. Sie wirkte so ermattet, sah so verstört aus, wie sie über dem Tisch zusammengesunken dasaß. Eine Strähne ihres kupferroten Haares war ihr ins Gesicht gefallen und hing ihr über die glatte, blasse Wange. Es war das erste Mal, dass er sie mit losen Haaren sah, und wieder wurde er daran erinnert, dass er sich während des Fluges gewünscht hatte, sie in die Arme schließen zu können.
Plötzlich war aller Ärger auf Sarah verschwunden. Nick hatte ihr wehgetan, und nun hatte er mit einem Mal ein schlechtes Gewissen. Sanft berührte er ihren Kopf. »Sarah, es kommt schon alles wieder in Ordnung«, flüsterte er. »Sarah«, bat er drängend, als sie sich nicht rührte, »sagen Sie etwas. Erzählen Sie mir, weshalb Sie glauben, Ihr Mann sei noch am Leben.«
Sarah atmete tief ein und blickte ihn an. Sie hatte die Augen eines Rehs, weich und groß. In diesem Moment spürte Nick, wie sehr sie sich hatte überwinden müssen, ihm in die Augen zu sehen und die Tränen zurückzuhalten. Er hatte sich in Sarah geirrt. Sie war innerlich nicht zerbrochen. Sie besaß eine Willenskraft, die er nie bei ihr vermutet hätte.
»Er rief mich an«, begann sie. »Vor zwei Tagen, in
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