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Der Anruf kam nach Mitternacht

Der Anruf kam nach Mitternacht

Titel: Der Anruf kam nach Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Lebensgrundlagen zu schaffen, eine neue Identität. Ich sollte ihm nachfolgen.«
    »Warum hat er mich geheiratet?«
    »Er brauchte eine amerikanische Frau. Er brauchte Ihr Heim, Ihr Bankkonto, den Schutz, den Sie ihm bedeuteten. Ich konnte mich nicht als Amerikanerin ausgeben. Mein Akzent, meine Stimme – das konnte ich nicht verändern. Aber Simon … Oh, er konnte sich in ein Dutzend verschiedener Leute verwandeln!«
    »Warum hat er mich ausgesucht?«
    Eve zuckte die Achseln. »Es kam ihm gelegen. Sie waren einsam und nicht sehr hübsch. Sie hatten keine Verehrer. Ja, Sie waren sehr empfänglich. Und Sie haben sich tatsächlich auch schnell in ihn verliebt.«
    Sarah unterdrückte ein Schluchzen und nickte.
    Eve schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: »In Wahrheit hat er Sie nie geliebt. Ich war diejenige, die er liebte. Seine Reisen hier nach London hatten nur den Zweck, mich zu sehen. Erst stieg er im Savoy ab, bevor er den Zug nach Margate nahm. Von Zeit zu Zeit fuhr er wieder nach London, um Sie anzurufen oder einen Brief für Sie aufzugeben. Ich habe diese letzten zwei Monate, in denen ich ihn mit Ihnen zu teilen hatte, gehasst. Aber es war notwendig und nur vorübergehend. Wir wollten beide überleben. Bis …« Sie sah beiseite.
    Plötzlich glitzerten Tränen in ihren Augen.
    »Was ist geschehen, Eve?«
    Eve räusperte sich und hob entschlossen den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß lediglich, dass er London vor zwei Wochen verlassen hat. Er nahm an einer Operation gegen Magus teil. Dann ging etwas schief. Man folgte ihm. Jemand deponierte einen Sprengsatz, der in seinem Hotelzimmer losgehen sollte. Er rief von Berlin aus an und ließ mich wissen, er habe sich entschlossen zu verschwinden. Auch ich solle mich verstecken. Sobald die Zeit reif sei, würde er mich holen kommen. Doch in der Nacht, bevor ich Margate verließ, hatte ich so ein … so eine Vorahnung. Ich versuchte, ihn in Berlin anzurufen. Da habe ich dann erfahren, dass er tot ist.«
    »Aber er ist nicht tot!«, entfuhr es Sarah. »Er lebt!«
    Eves Hände zuckten, fast hätte sie die Zigarette fallen lassen. »Was?«
    »Er hat mich vor zwei Tagen angerufen. Deshalb bin ich ja hier. Er bat mich, zu ihm zu kommen. Er sagte … er liebe mich …«
    »Sie lügen!«
    »Es ist wahr!«, rief Sarah. »Ich kenne seine Stimme.«
    »Ein Tonband vielleicht … oder ein ähnlicher Trick. Es ist so leicht, eine Stimme nachzuahmen. Nein, er kann es nicht gewesen sein. Er hätte bestimmt nicht Sie angerufen«, entgegnete Eve kalt.
    Sarah schwieg. Weshalb sollte jemand Geoffreys Stimme imitieren, um sie nach Europa zu locken? Dann fiel ihr wieder etwas anderes ein, ein weiteres Detail, das keinen Sinn ergab. Sie sah Eve über den Tisch hinweg an. »An dem Tag, an dem ich aus Washington abfuhr, ist jemand in meine Wohnung eingebrochen. Alles, was entwendet wurde, war eine Fotografie – nur das … und ich verstehe immer noch nicht …«
    »Ein Foto?«, fragte Eve scharf. »Von Geoffrey?«
    »Ja. Es war unser Hochzeitsfoto.«
    Eve erbleichte. Sie drückte hastig ihre Zigarette aus und riss ihre Handtasche sowie ihren Pullover an sich.
    »Wohin wollen Sie?«, fragte Sarah.
    »Ich muss zurück. Er wird nach mir suchen.«
    »Wer?«
    »Geoffrey.«
    »Aber Sie sagten doch, er sei tot!«
    Eves Augen glänzten und funkelten plötzlich sehr erregt. »Nein. Nein, er lebt! Er muss am Leben sein! Begreifen Sie denn nicht? Man kennt sein neues Gesicht nicht. Deshalb wurde das Foto gestohlen. Das bedeutet, dass man noch hinter ihm her ist.« Sie zog sich flink den Pullover über und stürzte zur Tür.
    »Eve!« Sarah rutschte von der Bank und rannte hinter der Frau her. Aber als sie draußen vor der Tür stand, war die Straße leer. Sie sah nur den Nebel, dicke, dichte Nebelschwaden, die alles einhüllten. »Eve?«, rief sie. Es kam keine Antwort. Eve war verschwunden.
    Nick lehnte müde den Kopf zurück und wünschte, er könnte schlafen. Es war ein Uhr nachts, Washingtoner Zeit, und dennoch war Nick hellwach. Er war viel zu wütend, um einschlafen zu können.
    Dauernd musste er an Sarah denken und wie unschuldig sie ausgesehen hatte, wie schmerzergriffen und verletzbar. Welch hervorragende Schauspielerin! Außerdem hatte sie etliche männliche Regungen in ihm wieder zum Leben erweckt, die er längst verloren geglaubt hatte. Er hatte sie beschützen, in seinen Armen halten wollen.
    Doch jetzt war er nicht mehr sicher, was er mit ihr machen würde. Der Beschützerinstinkt

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