Der Anruf kam nach Mitternacht
liebte Kairo und den Botschaftstrubel. Sie war die perfekte Frau für einen Mann im Auswärtigen Dienst. Ich glaube, das war einer der Gründe, weshalb sie mich überhaupt geheiratet hatte. Sie dachte, ich könnte ihr die große Welt zeigen. Unglücklicherweise erforderte es meine Karriere, an Orte zu gehen, die ihr nicht ganz zivilisiert erschienen.«
»Wie Kamerun?«
»Ganz recht. Ich wollte diesen Posten haben. Es wäre ohnehin nur für ein oder zwei Jahre gewesen. Aber sie weigerte sich schlichtweg, dahin zu ziehen. Dann wurde mir London angeboten, und sie war glücklich. Vielleicht wäre mit der Zeit alles gut gegangen. Außer …« Er verstummte. Sarah fühlte, wie sich der Arm unter ihrer Schulter anspannte.
»Du musst es mir nicht sagen, Nick. Nicht, wenn du es nicht möchtest.«
»Die Leute behaupten immer, die Zeit heile alle Wunden. Aber manchmal ist dem nicht so. Sie wurde schwanger, musst du wissen. Ich fand es in London durch Zufall heraus. Sie hat es mir nicht erzählt. Es musste erst der Arzt der Botschaft kommen und es mir mit einem freundlichen Schulterklopfen verkünden! Er erklärte mir, ich würde Vater. Ich war … oh, Sarah, ungefähr sechs kurze Stunden lang war ich so über den Wolken, man hätte mich mit Gewalt auf die Erde zurückholen müssen. Dann kam ich endlich nach Hause, und sie eröffnete mir sofort, dass sie das Kind nicht haben wollte.«
Es gab nichts, was Sarah hätte sagen können, um Nicks Schmerz zu lindern. Sie hoffte, er möge Trost in ihren Armen finden.
»Manchmal frage ich mich«, sagte er, »wie das Kind wohl ausgesehen hätte und ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden wäre. Welche Farbe hätte sein Haar gehabt? Ich ertappe mich dabei, wie ich die Jahre zähle und an all die Geburtstage denke, die wir nie zusammen feiern konnten. Meine Familie ist nicht sehr groß. Ich wollte dieses Kind. Ich habe Lauren geradezu darum angefleht. Aber Lauren behauptete, es komme ihr ungelegen.« Er sah Sarah in die Augen. »Ungelegen! Was hätte ich darauf sagen sollen?«
»Da konntest du nichts sagen.«
»Nein, du hast Recht. Darauf gibt es keine Antwort. Und in dem Moment habe ich bemerkt, dass ich sie nicht kannte. Von da an hatten wir ständig Streit. Sie flog in die Staaten zurück und … nahm die Angelegenheit in ihre Hände. Sie kehrte nie zurück. Einen Monat später bekam ich die Scheidungsunterlagen. Per Einschreiben. Das ist jetzt vier Jahre her.«
»Vermisst du sie noch?«
»Nein. Ich war beinahe erleichtert, als die Unterlagen eintrafen. Seither habe ich allein gelebt. Das war einfacher. Es gibt kein Kummer. Nichts.« Er strich Sarah über das Gesicht, ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Und dann kamst du auf einmal in mein Büro. Du mit deiner ulkigen Brille. Als ich dich am ersten Tage sah, habe ich deinem Aussehen überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt. Doch dann hast du diese Brille abgesetzt, und alles, was ich sah, waren deine Augen. Von dem Augenblick an wollte ich dich schon haben.«
»Ich werde diese alte Brille wegschmeißen.«
»Niemals. Ich liebe sie.«
Sarah lachte, weil sie sich über die netten und liebevoll gemeinten Worte freute. Zum ersten Mal in ihrem Leben kam sie sich wirklich hübsch vor.
Durch das offene Fenster blies der Wind, und ein leichter Abgasgeruch drang von der Straße zu ihnen herauf. Berlin erwachte zum Leben. Der Lärm des beginnenden Verkehrs war jetzt deutlich zu hören – das Hupen eines Fahrzeuges, ein vorbeifahrender Bus. Die Nacht war vorüber. Es war Zeit, das Telefongespräch zu führen.
»Sarah? Hast du darüber nachgedacht, was passiert, wenn wir ihn finden sollten?«
»So weit im Voraus kann ich nicht denken.«
»Du liebst ihn immer noch.« Nick stellte das sachlich fest.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr, wen ich liebe. Jedenfalls nicht Simon Dance. Vielleicht hat es den Mann, den ich geliebt habe, niemals gegeben. Er war nie wirklich.«
»Aber ich bin es«, flüsterte Nick. »Ich bin wirklich. Und anders als Geoffrey Fontaine habe ich nichts zu verbergen.«
10. KAPITEL
Werde ich ihn hier finden?
Wieder und wieder ging Sarah dieser Gedanke durch den Kopf, während der Bus nordwärts fuhr, zunächst durch breite, saubere Straßen und Alleen, vorbei an eleganten Kaufhäusern und Boutiquen. Dann überquerte der Bus den Landwehrkanal und nahm die Richtung nach Moabit.
Eine halbe Stunde früher hatten sie die auf Eves Telefonrechnung verzeichnete Nummer angerufen und ein
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