Der Anruf kam nach Mitternacht
Blumengeschäft hatte sich gemeldet. Die Frau am anderen Ende der Leitung war höflich und hilfreich gewesen. Ja, der Laden sei leicht zu finden. Er liege einige Kilometer nordöstlich des Ku’dammes. Die Bushaltestelle sei nur einen Häuserblock entfernt, ganz in der Nähe des Bahnhofes Wedding.
Das war kein besonders gutes Stadtviertel. Sarah sah aus dem Fenster, wie aus den breiten Geschäftsstraßen schmutzige, enge Straßenzüge wurden und die Häuser einen immer schäbigeren Eindruck machten. Hier spielten Kinder auf der Straße, und die Hauswände waren mit Graffiti besprüht. Verbarg sich Geoffrey im Hinterzimmer eines dieser Häuser? Wartete er vielleicht im Keller eines Blumengeschäftes?
Sie verließen den Bus an einer Straßenecke. Einen Block weiter fanden sie das Geschäft. Der Laden war klein und hatte schmuddelige Schaufenster. Auf dem Bürgersteig davor standen Plastikeimer voller Rosen. Eine Glocke schlug an, als sie die Tür öffneten.
Der Duft der Blumen war überwältigend. Eine etwa fünfzig Jahre alte Frau, die hinter dem Tresen stand und Blumensträuße band, lächelte ihnen zu. Sekundenlang blieb ihr Blick auf Sarah haften, dann glitt er zu Nick hinüber. »Guten Tag«, sagte sie.
Nick nickte. »Guten Tag.« Gemächlich schlenderte er durch den Raum und roch gelegentlich an einer Blüte, während die Frau ihn beobachtete, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Schließlich ließ sie den Strauß sinken.
»Ja, bitte?«, sagte sie leise zu Sarah.
Sarah zog Geoffreys Bild hervor und legte es auf die Theke. Die Frau starrte es schweigend an.
Nick wies auf die Fotografie und stellte der Frau eine Frage in deutscher Sprache. Sie schüttelte den Kopf. »Geoffrey Fontaine«, sagte er. Die Frau reagierte nicht. »Simon Dance«, sagte er dann. Wieder sah ihn die Frau nur verständnislos an.
»Aber Sie müssen ihn kennen!«, entfuhr es Sarah. »Er ist mein Mann. Ich muss ihn finden.«
»Sarah, lass mich …«
»Er wartet auf mich. Falls Sie wissen, wo er ist, dann rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, ich sei hier.«
»Sarah, sie versteht dich nicht.«
»Sie muss mich verstehen! Nick, frag sie nach Eve. Vielleicht kennt sie Eve.«
Auf Nicks Frage hin zuckte die Frau nur wieder die Schultern. Sie wusste überhaupt nichts über Geoffrey. Falls sie doch etwas wusste, gab sie es nicht preis.
Sollte sich alle Hoffnung Sarahs so schnell in nichts auflösen? Nachdem sie halb Europa durchquert hatten, waren sie an einem toten Punkt angekommen. Elend vor Enttäuschung steckte Sarah das Foto wieder in ihre Tasche zurück. Die Frau wandte sich ruhig wieder ihrer Beschäftigung zu und wickelte den Blumenstrauß in grünes Papier ein.
Niedergeschlagen wandte sich Sarah an Nick. »Was machen wir jetzt?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Ich habe keine Ahnung.«
Die Floristin riss große Stücke Papier von einer Rolle ab. Das knisternde Geräusch ging Sarah auf die Nerven.
»Warum gerade hier?«, murmelte sie. »Warum hat Eve ausgerechnet hier angerufen? Dafür muss es einen Grund gegeben haben.«
Sarah nahm die Blumengebinde um sie herum kaum wahr. Der Duft der Blüten erzeugte bei ihr Übelkeit.
Er erinnerte sie zu lebhaft an den schrecklichen Tag vor zwei Wochen auf dem Hügel des Friedhofes. »Bitte, Nick«, sagte sie leise. »Lass uns gehen.«
Nick verbeugte sich vor der Blumenhändlerin und sagte: »Danke schön.«
Die Frau lächelte und winkte Sarah zu sich heran. Verwundert ging sie zum Tresen zurück. Die Frau hielt ihr eine einzelne Rose entgegen, deren Stiel mit Papier umwickelt war, und sagte ruhig: »Auf Wiedersehen.«
Dann überreichte sie Sarah die Rose und sah ihr ernst in die Augen. Es war nur ein kurzer Blick, aber in diesem Moment begriff Sarah seine Bedeutung: Ihr war soeben eine Botschaft übermittelt worden. Eine Nachricht, die nur für ihre Augen bestimmt war.
Nickend nahm sie die Rose entgegen. »Auf Wiedersehen!«, sagte Sarah. Dann drehte sie sich um und folgte Nick aus dem Laden.
Auf der Straße hielt Sarah die Rose fest in der Hand. Ihre Gedanken rasten, der Stiel glühte unter ihren Fingern. Es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, nicht das Einwickelpapier abzureißen und die Nachricht zu lesen, von der sie wusste, dass sie dort verborgen war. Doch der Blick der Frau hatte ihr eine weitere Mitteilung gemacht, eine Warnung. Ihr Blick hatte ausgedrückt: Sie sind in Gefahr, durch jemanden in Ihrer Nähe.
Der einzige Mensch in ihrer Nähe war jedoch Nick.
Nick, der Mann,
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