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Der Anruf kam nach Mitternacht

Der Anruf kam nach Mitternacht

Titel: Der Anruf kam nach Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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lag.
    Sie erhaschte einen Blick auf die Zugtür, die langsam die letzten fünfzig Meter des Bahnsteiges entlangglitt. Und damit verschwand ihre letzte Gelegenheit zur Flucht.
    Der Mann kam näher, näher auf sein Opfer zu, von dem er annahm, dass es sich umdrehen und davonrennen würde.
    Aber sie rannte nicht zurück. Sie machte einen Satz nach vorn. Statt auf den Ausgang zuzulaufen, schoss sie blitzschnell an dem Mann vorbei und rannte hinter dem davonfahrenden Zug her.
    Ihre unerwartete Reaktion brachte ihr einen Vorteil von Sekunden. Der Mann war absolut nicht darauf gefasst gewesen.
    Der Zug gewann an Fahrt. Sarah blieben nur noch vielleicht zehn Meter, ehe er außerhalb ihrer Reichweite sein würde. Ihre Füße waren wie Blei. Hinter sich vernahm sie die Schritte des Blonden. Mit allerletzter Kraft rannte sie die letzten Meter. Der Haltegriff war jetzt nur noch Zentimeter von ihr entfernt. Dann berührten ihre Finger das kühle Metall. Mit einem Ruck hielt sie sich fest und versuchte verzweifelt, sich hochzuziehen.
    Sarah erreichte die unterste Stufe und hielt sich nach Atem ringend fest. Gebäude und Gärten rasten an ihr vorbei, zerrissene Bilder von Licht und Farben. Der Schmerz in ihrer Kehle löste sich in einem unglaublichen Schluchzen der Erleichterung. Ich habe es geschafft!, dachte sie. Ich habe es geschafft …
    Ein Schatten fiel über sie. Die Stufe erzitterte unter einem neuen Gewicht, und Kälte kroch ihr wie eine Todesahnung um das Herz, als eine Hand sich auf ihre Schulter legte. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren, keine Möglichkeit zur Flucht. Sie konnte sich nur festhalten, während der Mann sich drohend über sie neigte.
    Die Geschwindigkeit des Zuges wurde größer, immer größer. Das Geräusch dröhnte ihr im Kopf und übertönte alles andere, selbst das Pochen ihres Herzens. Das kann nicht wahr sein, dachte Sarah. Das ist nicht wahr, das muss ein Albtraum sein!
    Wie gelähmt sah sie die Gestalt sich herunterbücken und so das Sonnenlicht verdunkeln. Gleich würde dieser Schatten sie erreicht haben.
    Dann nahm sie in der Nähe ein Geräusch wahr. Sie ahnte die Bewegung mehr, als dass sie den wütenden Fußtritt gegen die Gestalt wirklich sah. Der vor ihr lauernde Schatten taumelte stöhnend rückwärts. Der blonde Mann schien endlos im Fall in der Luft zu hängen. Wie von magischer Kraft gezogen, fiel er von den Stufen, und sein wilder Fluch ging im Krach der ratternden Räder unter.
    Sarah erhaschte einen letzten Blick auf die Gestalt, und dann war er ihrem Blick entzogen. Irgendwie war sie noch am Leben und atmete. Der Albtraum war vorüber.
    »Sarah! Um Himmels willen …«
    Hände zogen sie nach oben, fort von dem Abgrund, fort vom Tod. Zitternd sank sie in Nicks Arme. Er hielt sie so fest, dass sie seinen Herzschlag spüren konnte.
    »Es ist vorbei!«, flüsterte er. »Es ist ausgestanden!«
    »Wer war das?«, schluchzte sie. »Warum lässt er uns nicht in Ruhe?«
    »Sarah, hör mir zu! Hör zu! Wir müssen aus dem Zug heraus. Wir müssen unsere Richtung ändern, ehe er uns einholt …«
    Und was dann?, hätte sie am liebsten geschrien. Wohin sollten sie dann?
    Nick warf einen Blick auf die vorbeifliegende Landschaft. Der Zug fuhr zu schnell, um abspringen zu können. »Beim nächsten Halt«, sagte er. »Wir werden uns anders fortbewegen müssen. Zu Fuß oder per Anhalten Sobald wir die holländische Grenze überquert haben, können wir einen anderen Zug nach Osten nehmen.«
    Sarah klammerte sich an ihn und hörte kaum, was er sagte. Sie schloss die Augen, und in Gedanken sah sie den Blonden am nächsten Bahnhof auf sie warten, und dann am darauffolgenden. Selbst Nick würde es nicht gelingen, ihn für immer abzuhängen.
    Sie starrte auf die dahinsausenden Gleise und hoffte, der nächste Bahnhof möge bald kommen. Sie mussten aus dem Zug, ehe sie in eine Falle gerieten. Sie mussten so schnell wie möglich untertauchen.
    Doch es schien, als würde der Zug niemals mehr halten, als bringe sie dieser eiserne Sarg direkt in die Arme ihres Mörders.
    Der alte Mann hatte einen Traum.
    Vor ihm stand Nienke, das lange Haar mit einem blauen Delfter Tuch zusammengebunden. Ihr breites, freundliches Gesicht war vom Garten verschmutzt, und sie lächelte. »Frans«, sagte sie, »du musst einen Plattenweg zwischen den Rosensträuchern anlegen, damit deine Freunde auch einmal durch die Blumen gehen können. Im Augenblick muss man immer um die Büsche herum und kommt nie mitten hinein, wo

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