Der Anschlag - King, S: Anschlag
Texans – noch nicht die Cowboys, noch nicht America’s Team – in diesem Herbst die Houston Oilers nach zweimaliger Verlängerung mit 2 0 :17 schlagen würden? Lächerlich. Aber was wusste ich sonst über die unmittelbare Zukunft? Nicht viel, weil ich keine Zeit gehabt hatte, mich mit ihr zu beschäftigen. Ich wusste ziemlich viel über Oswald, aber das war auch schon alles.
Sadie würde mich für verrückt erklären. Ich konnte ihr ein weiteres Dutzend Popsongs vorsingen, die noch nicht mal geschrieben waren, und sie würde mich trotzdem für verrückt halten. Sie würde mir vorwerfen, die Songtexte selbst erfunden zu haben – schließlich sei ich doch Schriftsteller. Und was war, wenn sie mir tatsächlich glaubte? Wollte ich sie mit mir in den Haifischrachen ziehen? War es nicht schlimm genug, dass sie im August nach Jodie zurückkommen würde, wo John Clayton – falls er ein Echo von Frank Dunning war – sie vielleicht bald aufspürte?
»Okay, dann verzieh dich!«, kreischte eine Frau auf der anderen Straßenseite, und ein Wagen raste in Richtung Winscott Road davon. Ein Lichtkeil drang kurz durch den Spalt zwischen meinen zugezogenen Vorhängen und huschte über die Zimmerdecke.
» SCHWANZLUTSCHER! «, schrie sie ihm nach, worauf eine weiter entfernte Männerstimme rief: »Lutschen Sie doch meinen, Lady, vielleicht beruhigt Sie das.«
Das war das Leben in der Mercedes Street im Sommer 1962.
Zieh sie nicht mit hinein. Das war die Stimme der Vernunft. Ob du sie überzeugen könntest oder nicht, ist zweitrangig. Dein Vorhaben ist einfach zu gefährlich. Vielleicht kann sie später wieder ein Teil deines Lebens sein – sogar eines Lebens in Jodie –, aber nicht jetzt.
Nur würde es für mich kein Leben in Jodie mehr geben. Wenn man bedachte, was Ellen inzwischen über meine Vergangenheit wusste, war es eine törichte Vorstellung, wieder an der Highschool unterrichten zu können. Aber was sollte ich sonst tun? Auf dem Bau arbeiten?
Eines Morgens setzte ich Kaffee auf und wollte die Zeitung hereinholen. Als ich die Haustür öffnete, sah ich, dass beide Hinterreifen des Sunliners platt waren. Irgendein gelangweilter Teenager, der spät nachts unterwegs gewesen war, hatte sie mit einem Messer zerstochen. Auch das war das Leben in der Mercedes Street im Sommer 1962.
6
Am 14. Juni, einem Donnerstag, zog ich Jeans, ein blaues Arbeitshemd und eine alte Lederweste an, die ich in einem Secondhandladen in der Camp Bowie Road gekauft hatte. Dann verbrachte ich den Morgen damit, in meinem Haus auf und ab zu gehen, als wäre ich irgendwohin unterwegs. Ich hatte keinen Fernseher, aber ich hörte Radio. In den Nachrichten wurde gemeldet, Präsident Kennedy werde Ende des Monats zu einem Staatsbesuch nach Mexiko reisen. Der Wetterbericht sagte bei leichter Bewölkung hochsommerliche Temperaturen voraus. Der DJ plapperte eine Zeit lang, dann spielte er »Palisades Park«. Die Soundeffekte auf der Platte – Kreischen und Achterbahngeräusche – taten mir in den Ohren weh.
Schließlich konnte ich es nicht länger aushalten. Ich würde zu früh kommen, aber das war mir egal. Ich setzte mich in den Sunliner, der jetzt zwei runderneuerte schwarze Hinterreifen hatte, die nicht zu den vorderen Weißwandreifen passten, und fuhr die etwas über vierzig Meilen hinaus zum Flughafen Love Field im Nordwesten von Dallas. Dort gab es keine Kurzparkzone, nur Parkplätze für 75 Cent pro Tag. Ich setzte meinen alten Strohhut auf und trottete ungefähr eine halbe Meile weit zum Ankunftsgebäude. Am Randstein standen ein paar Polizisten aus Dallas und tranken Kaffee, aber drinnen gab es keine Wachleute und keine Metalldetektoren, durch die man gehen musste. Die Fluggäste wiesen ihre Tickets am Ausgang vor, dann gingen sie über das heiße Vorfeld zu den Maschinen, die einer von fünf Fluggesellschaften gehörten: American, Delta, TWA , Frontier oder Texas Airways.
Ich sah auf die mit Kreide beschriebene Wandtafel hinter dem Delta-Schalter. Dort stand, dass Flug 194 pünktlich eintreffen werde. Als ich, um mich zu vergewissern, die Angestellte fragte, erklärte sie mir lächelnd, dass die Maschine gerade in Atlanta gestartet sei. »Aber Sie sind schrecklich früh dran.«
»Ich kann nichts dagegen machen«, sagte ich. »Bestimmt komme ich noch zu meiner eigenen Beerdigung zu früh.«
Sie lachte und wünschte mir einen angenehmen Tag. Ich kaufte mir das Time Magazine und ging ins Restaurant hinüber, wo ich den Chefsalat Siebter
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